Technik, die begeistert: Dank besserem Know-how und erfahrenen Trainern sind die Deutschen in technischen Disziplinen Weltspitze.

Berlin. Warum hat man Thomas Wessinghage eigentlich nicht früher gefragt? Die Lösung ist doch so einfach. Die "langweiligen Disziplinen", schlug der einstige 5000-Meter-Europameister in der "Ostseezeitung" vor, sollten aus dem Programm von Leichtathletik-Weltmeisterschaften gestrichen werden. Dann wäre es für die Zuschauer interessanter, und keiner würde mehr über die leeren Plätze im Berliner Olympiastadion klagen. Was langweilige Disziplinen sind, weiß der Mediziner Wessinghage (57) auch: "Nichts gegen unsere Werfer, aber die Zuschauer finden vor allem die Läufer interessant."

Wirklich verblüffend, die Idee. Man könnte sie noch weiterspinnen und käme vielleicht darauf, das Geschehen gleich ans Brandenburger Tor zu verlegen, wo am Wochenende die Geher viel Aufsehen erregt haben. Die Langweiler könnten währenddessen in einem kleinen Stadion eine Schwerathletik-WM auswerfen. Die Sache hat nur einen Haken: "Dann gäbe es für Deutschland inzwischen gar keine Leichtathletikmedaillen mehr."

Die das sagt, heißt Franka Dietzsch. Dreimal hat die Neubrandenburgerin bei Weltmeisterschaften Gold im Diskuswerfen gewonnen. Oft genug hat sie es bei großen Titelkämpfen für die Deutschen herausgerissen. 2005 in Helsinki sorgte sie für den einzigen Sieg. 2007 in Osaka gewann außer ihr nur die Hammerwerferin Betty Heidler Gold. Wenige Wochen später wurde der Auftritt der beiden Weltmeisterinnen beim Heimmeeting in Berlin kurzfristig gestrichen. Diskus und Hammer seien nicht mehr zeitgemäß, hieß es.

Schon bemerkenswert: Seit Jahren bewahren die Werfer und Stoßer die deutsche Leichtathletik vor der Bedeutungslosigkeit. Sechs Medaillen gab es für den Gastgeber an den ersten sechs WM-Tagen. Vier wurden im Wurfring erzielt, darunter die goldenen für Robert Harting (Diskus) und Steffi Nerius (Speer). Einzig Siebenkämpferin Jennifer Oeser (2.) und Hochspringerin Ariane Friedrich (3.) konnten die Regel brechen. Auf der blauen Bahn hingegen reichte es nur zu einer Endlaufteilnahme durch Hindernisläuferin Antje Möldner.

Trotzdem fühlen sich die Erfolgsbringer in der Leichtathletikfamilie zunehmend als Stiefkinder. So beklagte nicht nur Nerius' Trainer Helge Zöllkau nach dem Wettkampf die vielen Unterbrechungen: "Das ist eine Sauerei. Die Dreispringer durften weitermachen, und wir mussten ständig warten, weil gerade Läufer vorgestellt wurden." Sportdirektor Jürgen Mallow sah sich hinterher bemüßigt, eine Lanze für die Speerweltmeisterin zu brechen: "Vielleicht haben wir keine Stars oder was man darunter versteht, aber wir haben Siegertypen."

Die weisen, bei allen Unterschieden, erstaunliche Gemeinsamkeiten auf. Alle vier Medaillengewinner wurden in der DDR geboren. Nerius (37), die Kugelstoßer Ralf Bartels (31) und Nadine Kleinert (33) erhielten wie Dietzsch (41) ihre Grundausbildung in der Kinder- und Jugendsportschule oder was davon nach der Wende übrig blieb. Und auch Harting (24) wird von einem ehemaligen DDR-Trainer betreut.

Offenbar trägt das Fachwissen bis heute Früchte. Die Häufung mag Zufall sein, denn es gibt andere Erfolgsbeispiele. "Wir haben viel Know-how und gute Trainer", weiß die Offenburgerin Christina Obergföll, Olympiadritte im Speerwurf. Auch ausländische Werfer suchen den Wissenstransfer und kommen zum Trainieren hierher.

Deutschland habe im Werfen und Springen immer seine Stärken gehabt, sagt der Sportwissenschaftler und langjährige Leichtathletikfunktionär Prof. Helmut Digel: "In den Laufdisziplinen haben wir eher von Einzelkönnern wie Dieter Baumann oder Nils Schumann gelebt." Zuletzt habe dieses Zufallsprinzip nicht mehr gegriffen. Von einer systematischen Auslese und Förderung von Talenten hält Digel aber nichts: "In einer freien Gesellschaft können wir das nicht durchziehen wie in der DDR." Die Erfolgsgrundlagen freilich werden wie in allen Sportarten in jungen Jahren gelegt. Ein Langstreckenläufer muss unzählige Kilometer fressen, um in die Weltspitze vorzustoßen. "Aber bei uns werden die Kinder zur Jahnkampfbahn mit dem Auto gebracht", weiß der Athletenmanager und Hamburger Verbandsgeschäftsführer Frank Thaleiser. Läufer seien einer globalen Konkurrenz ausgesetzt, denn laufen könne jeder. Hierzulande aber könne man etwa als Sprinter schon im Mittelmaß gut von Sponsoren leben.

In den technischen Disziplinen ist der Wettbewerb eingeschränkter, der finanzielle Anreiz einer Werferkarriere niedrig. Man fragt sich, warum. Die Wettkämpfe in Berlin sind alles, nur nicht langweilig. Der Frauenspeerwurf stach im Fernsehen die Fußballübertragung des Stuttgarter Champions-League-Spiels klar aus. Vielleicht hatte Wessinghage den falschen Sender laufen.