Die 37-jährige Leverkusenerin Steffi Nerius siegte im Speerwerfen. Gleich ihr erster Versuch war der beste und bescherte den WM-Titel.

Berlin. Als Steffi Nerius zum letzten Mal nach dem Speer griff, hatte sie Tränen in den Augen. Sie versuchte alles, um sich noch auf diesen Wurf zu konzentrieren, ihren letzten bei einer großen Meisterschaft. Sie schaffte es nicht. Wie denn auch? Sie war Weltmeisterin. Die erste deutsche bei dieser Heim-WM und in dieser Disziplin, in denen es so viele Medaillen, aber eben nie eine goldene gegeben hat. Aber Steffi Nerius wäre nicht Steffi Nerius, wenn sie nicht noch einmal Anlauf genommen, noch einmal den Speer raus auf die Wiese des Olympiastadions geschleudert und natürlich die 60 Meter übertroffen hätte. Sie war schon immer die Konstanteste ihres Fachs.

Gestern erhielt die 37-Jährige dafür die längst fällige Belohnung: die Goldmedaille. "Es ist einfach nur schön, gigantisch", jubelte sie, "an dieses Gold habe ich im Traum nicht gedacht." Dann begab sich Nerius auf die Ehrenrunde, und die 29 897 Zuschauer hielten sich sehr gern an die Aufforderung, die sie auf ihr weißes Stirnband mit schwarzen Lettern geschrieben hatte: "Berlin - macht Rabatz!"

Gleich im ersten Versuch hatte die Europameisterin aus Leverkusen ihre Konkurrenz mit einem Wurf auf 67,30 Meter beeindruckt. Genau das war ihr Plan gewesen, aber zu diesem Zeitpunkt war noch nicht zu ahnen, dass es der größte Wurf ihrer Karriere sein würde. Oder vielleicht doch? Nerius hatte jedenfalls fortan alle Mühe, das breite Grinsen wegzukauen, das sich ihr ins Gesicht gelegt hatte. Ein paar Mal ärgerte sie sich über die vielen Unterbrechungen. Aber dann, erzählte sie später, sei ihr eingefallen, dass ja die anderen nervös werden müssten und nicht sie. Genau so kam es.

Nur zwei Athletinnen hatten eine bessere Weite als 67,30 Meter als Empfehlung mit nach Berlin gebracht. Barbora Spotakova, die tschechische Titelverteidigerin, Weltrekordlerin und Olympiasiegerin, kam ihr mit 66,42 Metern noch einmal gefährlich nahe, mehr aber auch nicht. Und Christina Obergföll, die Weltjahresbeste, konnte die Zweifel an ihrer Form nicht ausräumen. Dreimal versuchte sie es mit dem alten Speer, dreimal mit dem neuen, doch zu mehr als 64,34 Meter und Platz fünf reichte es für die große Goldhoffnung nicht. In Peking hatte sie im vergangenen Jahr den deutschen Leichtathleten mit Bronze noch die einzige olympische Medaille beschert.

Obergföll (27) wird sich nun eine neue Rivalin suchen müssen. "Die Duelle mit Steffi werden mir fehlen", bekannte sie vor Kurzem. Das Weltfinale in Thessaloniki im September wird Nerius' letzter Wettkampf sein. Zum 1. Oktober tritt die Diplomsportlehrerin bei ihrem Verein Bayer Leverkusen eine Vollzeitstelle als Trainerin im Behindertensport an. "Eigentlich wollte ich ja noch mal 70 Meter werfen", sagte sie gestern Abend, "aber als Welt- und Europameisterin kann man auch abtreten."

Eine Nachfolgerin ist schon gefunden. Nerius' Vereinskollegin Linda Stahl (23) war gestern mit 63,23 Metern so gut wie noch nie in diesem Jahr. Ihr sechster WM-Platz wird kaum der größte Erfolg ihrer Karriere bleiben.