Sein Goldrennen von Rom war mehr als ein Sieg, es war ein Triumph. Und wer einen wie ihn schon als Helden sehen will, fragt auch nicht nach den Mitteln.

Das Einzige, was an dem neuen Weltstar nicht passt, ist sein Name: Paul Biedermann ist einfach die falsche Visitenkarte für einen Helden. Ein Biedermann charakterisiert, streng genommen, das Gegenteil. Zunächst jedenfalls. Doch all das, was an kleinlichen Bedenken und spießigen Vorbehalten hochkam, zerfiel zu Staub, als der 1,92 Meter große Athlet aus Halle/Saale mit seinem Astralkörper, einem Triton gleich, dem Wasser entstieg, die Faust gereckt: den Übermenschen geschlagen, den alten Weltrekord zerfetzt, die Schwimmwelt aus den Angeln gehoben - und das als Deutscher: Herz, was willst du mehr. Sport, wie bist du schön!

Dienstagabend gegen 18.05 Uhr war es, als nach 1:42,00 Minuten eine neue Sternstunde im Sport geschrieben wurde - eine, die sich zwar schon zu Beginn der Weltmeisterschaften angedeutet hatte, als Biedermann auch die 400 Kraul in Weltrekordzeit gewann, sich aber erst im Duell mit dem wahren Champion, dem einzigartigen Michael Phelps, zur Weltsensation verdichtete: Ausgerechnet ein Biedermann schlägt den 14-fachen Olympiasieger aus den USA, den Unschlagbaren, den Rekordhalter aller Rekordhalter, den etwas Entrücktes umgab. Mythos fragt nicht nach Sachlichkeit. Mythos will erlebt sein, unmittelbar und dramatisch. Mythos ist Rausch für die Seele. Irdisches Kleingeld will da niemand zählen.

Das Rennen über die 200 Meter Kraul war eine ebenso lange "via triumphalis" für den jungen Mann aus Sachsen-Anhalt wie Demütigung für den Entthronten. Biedermann entfernte sich kontinuierlich, Phelps strampelte hinterher. Diese 200 Meter, bis Peking seine Paradestrecke, wurden Meter für Meter zu seinem sportlichen Untergang, unabhängig davon, was er in Rom noch gewinnt. Mythos kann schnell verwelken.

"Hic Rhodos, hic salta" nannten die Römer die Stunde der Wahrheit, die auf die Erfolge der Vergangenheit pfeift. Hier ist Rhodos, hier springe! Übersetzt ins Jetzt: Es lebe Rom, Peking ist tot. Wer hier siegt, sitzt im Olymp, ist der wahre, der uneingeschränkte Herrscher, ein Ausbund an Stärke, Mut und Unangreifbarkeit. Sport ist und bleibt - jenseits aller Aufklärung - die ständige Uraufführung einer archaischen, gnadenlosen, umso mehr bewunderten Welt, allenfalls durch Fairness gemildert.

Wirklich noch - im Zeitalter des Dopings? Wie soll das gehen? Kann man das glauben bei Biedermanns Aufstieg, einem Steilflug in den Himmel gleich? In Peking noch Fünfter über diese Strecke, vier Plätze hinter Phelps, hat er den auch erst 24-Jährigen jetzt wie einen alten Mann aussehen lassen. Eine Raketenentwicklung in weniger als einem Jahr.

Es gab eine Zeit, als Steilflüge im Sport nichts Ungewöhnliches waren. Im Gegenteil, sind sie Ausweis des besonderen Talents gewesen. Armin Hary verbesserte sich über 100 Meter binnen vier Jahren von 11,3 auf 10,0 Sekunden. Martin Lauer im gleichen Zeitraum über die 110 Meter Hürden von 14,3 Sekunden auf 13,2 Sekunden - Maßstäbe, die im Dopingzeitalter (50 Jahre nach den beiden Athleten) nicht mehr gelten. Heute lässt sich der Aufstieg eines Supertalents vom sprunghaften Leistungsanstieg eines durch Doping "geförderten" Athleten mittlerer Begabung nicht mehr auseinanderhalten. Paul Biedermann, der so leicht durchs Wasser gleitet wie Wölkchen am Sommerhimmel, macht es einem so leicht nicht. Dass er die Fabelzeiten angeblich schon im Training schwamm, ist schon schwer genug zu glauben - bei dem Stand der Weltrekorde gehört eigentlich der Adrenalinschub des Wettkampfes dazu, um alles aus sich herauszuholen. Dass Biedermann wegen einer schweren Infektion dazu noch auf 300 Trainings-Kilometer verzichten musste, macht das Ganze umso fragwürdiger. Da kommt Skepsis auf: Ist der Mensch, der so bescheiden daherkommt, wirklich aus Sachsen-Anhalt oder vielleicht doch ein verkleideter Außerirdischer?

Bescheidenheit im Auftritt ist längst grundsätzlich kein Ausweis mehr für Unschuld, scheint es doch unter den Superstars kaum noch jemanden zu geben, der sich wegen der Einnahme verbotener Mittel ein schlechtes Gewissen macht. Ob er Jan Ullrich heißt oder Ludger Beerbaum. Der eine will niemandem geschadet haben, was wohl als indirektes Geständnis dafür gelten kann, dass sie alle gedopt haben; der andere - noch offener - verkündete, dass man den Pferden alles verabreichen dürfe, womit man nicht überführt werde. Aber auch der permanente Hinweis aller (noch) Unschuldigen mutet seltsam an: Man sei ja trotz zahlloser Urin- und Blutproben nie erwischt worden. Als ob nicht jedes Kind wüsste, wie sehr die Dopingfahnder den Dopingsündern hinterherhinken.

Die entsprechende Aussage des Hallenser Wunderschwimmers war, so betrachtet, wenig überzeugend. Andererseits, wenn er selbst wirklich sauber und gleichsam ohne eigenes Zutun in den Sog des allgemeinen Zweifelns geraten ist, kann er sich in aller Unschuld der üblichen Floskeln bedienen. Einer, der sich nichts vorzuwerfen hat, braucht sich über Formulierungen den Kopf nicht zu zerbrechen, zumal ihm mit den neuen Wunderanzügen ein offenbar unabweisbares Indiz für alle Stadien der Leistungssteigerung zur Seite steht. Dass solche Hightech-Anzüge den Sport zur Farce machen, steht auf einem anderen Blatt. Betrug ist es nicht. Und es ehrt Biedermann, dass er sowieso am liebsten in der Badehose schwimme und seine Weltrekorde mit einem Sternchen versehen möchte.

Doping bleibt Betrug, ist aber im Sport längst kein Grund mehr, auf Helden zu verzichten. Held wird einer durch stupende Überlegenheit, basierend auf seinem unabwendbaren Siegeswillen - in den Augen seiner Fans genau das, was sie sehen wollen. Dort freilich um eine Variante brutaler: Der Fan will mehr: am liebsten die Vernichtung des Gegners, den Triumph seines Helden, nicht nur dessen Sieg.

Dem Fan, dem offenbar in vielen Sportarten die Fairness abhandengekommen ist, ist jedes Mittel zum Sieg recht. Er fragt nicht nach, nicht mehr. Ein Star wie der jamaikanische Sprinter Usain Bolt begeistert trotz aller Zweifel die ganze Welt, und zwar wegen seiner Urgewalt, mit der er triumphiert, die in den Menschen so etwas von Euphorie freisetzt, wie sie sie sonst offenbar nicht erleben. Und das war schon immer so: Warum hingen in den 70er-Jahren, wenn Muhammad Ali boxte, nachts so viele Frauen am Fernseher? Was versetzte (und versetzt bald wieder) die Männer an Michael Schumacher derart in Erregung? Brutale Überlegenheit. Ur-Empfindungen, die der Alltag übertüncht, die dennoch von Zeit zu Zeit fast jeder mal erleben möchte.

Zwei, die denselben Sport auf total gegensätzliche Art und Weise verkörperten, stehen sich wie am Scheideweg gegenüber: das Filigrane einer Steffi Graf und das Berserkerhafte eines Boris Becker. Solange der Sport beides irgendwie unter einen Hut bekommt, stirbt er nicht - gleich, ob gedopt oder nicht. Sport und Fans lieben ein und dasselbe: den Sieger, mehr noch das Charismatische, das sie in ihm sehen (wollen), das Mythische, das sie für sich herausdestillieren.

So betrachtet ist auch ein Biedermann, namens Paul, nicht ohne Chancen, ein Held zu werden ... Deutschlands Sportler 2009 ist er jetzt schon.