Fans und Medien erwarten von dem 22 Jahre alten Schotten den ersten britischen Triumph seit 1936.

London. Für einen Mann, auf dessen Schultern die Hoffnungen des ganzen Königreichs lasten, gab sich Andy Murray am Wochenende vor dem Wimbledon-Start geradezu aufreizend gelassen. Am Freitag sah man ihn zunächst Golf spielen, dann drehte er ein paar Runden auf einer Go-Kart-Bahn, ein Tennisracket rührte er gar nicht an. Sonntagabend marschierte Murray vergnügt zu einem Tischfußball-Turnier unter Freunden und sah sich später noch einen Kinofilm im Süden Londons an, dort, wo er seit gut zwei Jahren ein Luxus-Apartment besitzt. "Das ganze Gerede von Druck ist doch einfach totaler Quatsch", sagt Murray, "ich weiß ganz genau, was auf mich zukommt. Und ich komme damit auch klar."

Ist das nun ganz besonders cool, oder spielt da einer nur verbissen Normalität, eine Normalität, die für ihn gar nicht möglich ist? "Das Erstaunlichste an Murray ist: Er hat überhaupt keine Probleme, mit diesen gewaltigen Siegeshoffnungen fertig zu werden", sagt John McEnroe, der jugendliche Superstar der 80er Jahre, "den lässt das einfach kalt." Und das will schon etwas heißen im Treibhaus London, in dem die Erwartungen in den Himmel sprießen: Nichts weiter als der erste britische Sieg seit dem Vorkriegs-Triumph von Fred Perry im Jahre 1936 steht inzwischen auf der Rechnung von Fans und Zeitungsmachern.

Seit Murray am vorletzten Sonntag auch noch das traditionelle Vorbereitungsturnier im Queens Club gewann, ist es um die Briten endgültig geschehen - als er kurz nach dem Triumph seinen Wimbledon-Dress im blütenweißen Fred-Perry-Stil vorstellte, titelten die Blätter über ihn und den Retrolook: "Murray - die große weiße Hoffnung." Die Bühnenpräsentation war im übrigen der einzige Moment, in dem Murray im Countdown zu den "Championships" sichtlich Unbehagen verbreitete und verkrampft in die Kameras starrte - der Laufsteg ist, anders als der Centre Court, nicht sein Freund.

Dass er die öffentliche und veröffentlichte Aufregung vor dem "Turnier der Turniere" so routiniert wegsteckt, diese Gelassenheit vor seinem Grand-Slam-Heimspiel hat auch mit einem bemerkenswerten Reifeprozess zu tun. Aus dem unwägbaren Hitzkopf, der sich schon mal selbst mit Wutanfällen und cholerischen Ausbrüchen zerstören konnte, ist ein gesetzter Profispieler geworden - ein ausbalancierter Spitzenmann, der nicht mehr unnötig seine Kräfte in Selbstbespiegelungen verschwendet. Ganz ähnlich wie Wimbledon-Meister Roger Federer gelang dem Schotten der Aufstieg in die engere Weltspitze erst, als er nicht mehr seine Schläger zerdepperte und dauernd Zwiegespräche mit sich hielt. "Um zu verstehen, wie man Erfolg im Tennis haben kann, brauchte ich Zeit", sagt Murray, "vorne stehen kannst du jedenfalls nicht, wenn du dir selbst der größte Gegner bist."

Geholfen hat ihm dabei auch der schlaue Trainer-Fuchs Brad Gilbert, in jener schwierigen Teenagerzeit im Tennis, in der Karrieren schon scheitern können. Inzwischen vertraut er auf die Dienste einer Kumpeltruppe mit dem ehemaligen schottischen Profi Miles McLagan, aber es wirkt oft so, als sei er bereits selbst sein wichtigster Ratgeber und Controller. "Für einen 22-jährigen ist Murray sehr weit in der Entwicklung, weiter als 99,9 Prozent der Spieler in diesem Alter", sagt Nick Bollettieri, der bekannteste Tennistrainer der Welt. Britanniens alter Heroe, der smarte Tim Henman, sagt über seinen Erben sogar: "Er ist schon jetzt besser, als ich es jemals war."

Nur: Führt ihn das eines nahen oder fernen Tages auch auf den Wimbledon-Thron? Am liebsten spielt Murray ja bei den Australian Open oder den US Open. Als halbstarker Profi ließ er auch keine Gelegenheit aus zu sagen, wie sehr er New York mag - einer der vielen Affronts gegen England im allgemeinen und Wimbledon im besonderen. Heute weiß er, dass er nicht mehr gegen England oder auch die ganze Welt seinen Weg gehen will - und kann. Stromlinienförmig ist er deswegen noch lange nicht.