Das Handy war nur eine Variante, um einem ratlosen Spieler von außen die nächsten Züge zu weisen, Grimassen von Betreuern eine andere. Sogar farbige Joghurtbecher sollten schon geheime Botschaften übermitteln ...

Bonn. Die Wettkampfstätte mutet an wie ein Hochsicherheitstrakt. Metalldetektoren tasten Viswanathan Anand und Wladimir Kramnik am bewachten Seiteneingang ab. Im Saal, in dem die beiden besten Spieler der Welt in den nächsten zweieinhalb Wochen um die Krone des Schachs ziehen werden, ist der Handy-Empfang gestört. Die Sicht der beiden Weltmeister von der Bühne auf die nach hinten ansteigenden Zuschauerreihen versperrt ein Theatervorhang aus Gaze. Der wird mit dunkelblauem Licht angestrahlt, das keine Schatten wirft. Der Vorhang lässt nur den Blick des Publikums aus dem abgedunkelten Raum auf die 64 Felder zu. Anand und Kramnik sehen den Stoff als schwarze Wand.

Ihre Sekundanten und Manager werden während der Partien von Personenschützern "begleitet". Deren Auftrag: auffälliges Verhalten, Gesten und Fingerzeige sofort dem Schiedsgericht zu melden. "Auch wenn Anand und Kramnik Ehrenmänner sind, ihnen Betrügereien nicht einmal in den Sinn kämen, diese Vorsichtsmaßnahmen scheinen in der heutigen Zeit nötig zu sein", meint der Münchner Großmeister Helmut Pfleger (66), der die Spiele im frei zugänglichen Ostflügel der Halle live kommentiert.

Dass Schachspieler heimlich zu "unterstützenden Maßnahmen" greifen, kann niemand ausschließen. Nur lässt sich Doping solcherart - Drähte statt Drogen, Strahlen statt Spritzen - nicht mit Blut- und Urintests nachweisen.

Das Misstrauen gegen die Elite im Schachsport rührt nicht nur, aber auch daher, dass der Computer zum ultimativen Freund der Großmeister aufgestiegen ist. Und der Verdacht, dass diese die binären Erkenntnisse der Maschine nicht nur im Training, sondern auch während der öffentlichen Partien mittels Helfer oder Handys unrechtmäßig nutzen bis zum "Königsmord", ist nicht mehr wegzudiskutieren.

Seit selbst die besten Profis der Welt den leistungsstärksten Rechnern nur noch Remisen abtrotzen, haben die Silizium-Monster das Schachverständnis verändert. Viele Varianten, die früher als unspielbar galten, werden jetzt bei Turnieren uraufgeführt, andere, denen Generationen von Großmeistern vertraut hatten, als zweifelhaft eingemottet. Während ihrer halbjährigen Matchvorbereitung zapften Anand und Kramnik die Elektronengehirne auf der Suche nach neuen Möglichkeiten täglich rund um die Uhr an. Keine Spieleröffnung kommt heute aufs Brett, die nicht die Zustimmung der Computer gefunden hat. Die Versuchung liegt da nah, diesen elektronischen Schatz auch im Wettkampf zu heben.

Der Erste, der damit auffiel, war der deutsche Kreisligaspieler Clemens Allwermann. Er gehörte nicht zu den oberen Zehntausend der Schachwelt, 1998 jedoch kombinierte er beim Turnier in Böblingen wie die Besten zehn der Zunft. In der letzten Runde verfiel er schließlich dem Größenwahn und kündigte gegen den russischen Großmeister Sergej Kalinitschew, als dieser nicht aufgeben wollte, ein Matt in acht Zügen an. Das war allen Umstehenden verborgen geblieben, nur nicht dem Schachprogramm "Fritz 5.32" der Hamburger Softwarefirma ChessBase. "Als wir Allwermanns Partien nachspielten, haben wir sofort unser Baby erkannt", berichtete Geschäftsführer Frederic Friedel. Wie Allwermann, der in der Unterhaltungselektronik gearbeitet hatte, betrogen hat, ist bis heute nicht restlos geklärt. Mit einem Knopf im Ohr und einem Tastfunkgerät in der Hosentasche soll er mit einem Freund in Verbindung gestanden haben. Allwermanns Ergebnisse in Böblingen wurden nachträglich annulliert.

Im Zeitalter von Bluetooth, kabellosen Headsets und Liveübertragungen im Internet sind der Übermittlung von Schachzügen aus Nebenräumen alle Linien und Diagonalen geöffnet. Computer, ausgesprochen schnelle Brüter, haben meist nach einer oder zwei Minuten die richtige Idee zur Fortsetzung des Spiels. Der Weg vom Schaltkreis zum Brett könnte mit Mobiltelefonen und am Ende mit Handzeichen oder Grimassen überbrückt werden. Bei Wettkämpfen sind eingeschaltete Handys inzwischen in allen Spielklassen verboten. Schon das Klingeln führt umgehend zum Partieverlust. Veranstalter von bedeutenden Wettkämpfen beginnen Großmeister bereits in Glaskäfige zu sperren, die jegliche Kommunikation nach außen verhindern. Dazu muss man wissen, dass Spitzenspielern meist schon wenige allgemeine Hinweise genügen, um ihre Partie auf Dauer vorteilhaft zu gestalten. "Wir bräuchten nicht einmal konkrete Züge, uns würden bereits zwei, drei Tipps reichen, dass es sich lohnt, in genau dieser kritischen Position länger zu rechnen", beschrieb Weltmeister Anand den möglichen Rahmen der Manipulation.

Der aktuelle Weltranglistenerste Wesselin Topalow (33) soll sich mit seinem Manager Silvio Danailow dieser unlauteren Mittel bedient haben. Der Bulgare geriet in Manipulationsverdacht, als er 2005 in Argentinien überraschend souverän Weltmeister wurde. Zuvor hatte er zwar als starker Großmeister gegolten, aber auch als einer, dessen Leistungskurve stagnierte. Topalow und Danailow wiesen alle Vorwürfe zurück. Stattdessen beschuldigten sie vor zwei Jahren Wladimir Kramnik, sich beim WM-Kampf gegen Topalow im kalmückischen Elista Hilfe aus dem Off geholt zu haben. Kramnik hatte während der ersten beiden Partien bis zu 50-mal die Bühne verlassen und war in seinen angrenzenden Ruhe- und Waschraum gegangen. Der wurde nicht von Kameras überwacht, war aber direkt vor jeder Partie mit Messsonden nach verborgener Elektronik durchleuchtet worden. Später entdeckte man ein totes Computerkabel in der Decke. Das erweckte die Verschwörungstheorien zu neuem Leben. Der Fall ging als "Toilettengate" in die jüngere Schachgeschichte ein. Kramnik gewann das Match im Tiebreak. Der Weltschachbund Fide verurteilte die Unterstellungen Topalows - mit der Begründung, so etwas bringe den Schachsport in Verruf.

Dazu bedurfte es dieser Vorkommnisse nicht. Wettkämpfe um die Weltmeisterschaft haben seit jeher die absonderlichsten Geschichten geliefert, besonders in Zeiten des Kalten Krieges zwischen West und Ost. Einen Höhepunkt bot 1978 auf den Philippinen das WM-Duell zwischen dem sowjetischen Musterschüler Anatoli Karpow und dem zwei Jahre zuvor aus der UdSSR in die Schweiz geflüchteten Viktor Kortschnoi. Der fühlte sich von den Blicken eines Parapsychologen aus dem Publikum gestört und platzierte seinerseits zwei indische Gurus auf der Tribüne; sie sollten Karpow aus dem Gleichgewicht bringen. Auch vermutete Kortschnoi, dass in der Farbe und der Fruchtbeimischung der Joghurts, die Karpow während der Partien gereicht wurden, verklausulierte Hinweise und Botschaften steckten. Karpow gewann. Kortschnoi ist bis heute davon überzeugt, dass ihn andernfalls der sowjetische Geheimdienst KGB ermordet hätte.

Im Kampf der Köpfe haben Ängste und Aberglauben immer eine Rolle gespielt. Denkduelle auf dem intellektuellen Niveau von Schach-Weltmeisterschaften sind existenzielle Herausforderungen. Labile Persönlichkeiten sind ihnen auf Dauer nicht gewachsen. Robert James "Bobby" Fischer, der legendäre amerikanische Weltmeister, ließ 1972 vor seinem Duell mit dem Russen Boris Spassky in Reykjavik den Spielsaal nach Störsendern und Strahlenquellen durchsuchen, die er vor allem in Spasskys Stuhl vermutete. Als er in der ersten Partie, die er verlor, ein Surren von Fernsehkameras vernahm, trat er nicht zur zweiten an und drohte mit Abreise. Spassky lenkte schließlich bei allen Forderungen ein, was er später als zu willfährig bereute, und Fischer siegte am Ende überlegen. Psychologen sahen in Fischers Verhalten jedoch keine Art außerschachlicher Kriegsführung, sondern glaubten in den medienwirksamen Mätzchen vielmehr dessen schwaches Ich zu erkennen und den Abbau seiner Angst vor dem Versagen. Nach seinem Triumph tauchte Fischer, der dieses Jahr verstarb, für 20 Jahre ab.

Auch Garri Kasparow hielt es mit Verschwörungen. Der ehemalige Weltranglistenerste und langjährige Weltmeister, der vor drei Jahren in die russische Politik wechselte, suchte nach Niederlagen gern die Ursache bei dunklen Mächten - die man in der Sowjetunion in der damaligen Zeit allerdings auch vermuten durfte. 1986 witterte er nach einer Niederlagenserie in seinem WM-Kampf gegen den Parteiliebling Karpow Verrat und feuerte einen Sekundanten. Das befreite ihn. Kasparow siegte. Als er 1997 in New York ein Match gegen den IBM-Computer Deep Blue spektakulär verlor, glaubte er zu wissen, wem die Maschine ihre entscheidenden Einfälle zu verdanken hatte. Deep Blue, zürnte Kasparow, habe in der zweiten Partie Züge gemacht, die nur von Menschenhand stammen könnten. Großmeister hätten zwischendurch statt der Maschine die Figuren geführt. Den Beweis konnte Kasparow nie antreten. IBM gab die Algorithmen nicht frei.

Kramnik und Anand kennen alle diese Geschichten, und sie sind froh, dass sie in Bonn nicht gegen irgendjemand anderen antreten müssen, sondern gegeneinander spielen dürfen. "Es ist ein angenehmes Gefühl", sagte Kramnik, "dass dieses Match allein am Schachbrett entschieden wird und keiner versuchen wird, Nebenkriegsschauplätze zu eröffnen." Dass ihr Wettkampf erstmals live als Videostream im Internet gezeigt wird, schreckt Kramnik nicht. Wie er sich darauf vorbereitet habe? "Durch kämmen", antwortete er.