Der sehgeschädigte ETV-Kämpfer über den Tunnelblick, Mobbing in der Schule und Betrug beim Augenarzt.

Abendblatt:

Herr Zilian, Judo für Sehgeschädigte, wie funktioniert das?

Dominik Zilian:

Die Kämpfer stehen sich gegenüber, fassen sich an - und dann geht's los. Es gibt unterschiedliche Eingruppierungen, aber bei den Paralympics treten alle gegeneinander an. Also Leute, die gar nichts mehr sehen können auch gegen solche wie mich mit einem Restsehvermögen. Einen Vorteil hat man dadurch eigentlich nicht, ich kämpfe nur nach Gefühl. Der Weltmeister und Paralympicssieger in meiner Gewichtsklasse ist beispielsweise komplett blind.



Abendblatt:

Sie selbst haben noch knapp fünf Prozent Sehvermögen. Wie muss man sich das vorstellen?

Zilian:

Bei mir ist das eine Gesichtsfeldeinschränkung. Ich habe also den Tunnelblick ganz von selbst. In etwa nachvollziehen kann man das, indem man durch eine Küchenrolle guckt und dann mal durch seine Wohnung läuft.



Abendblatt:

Konnten Sie früher besser sehen als heute?

Zilian:

Die Krankheit hatte ich von Geburt an, im Alter von vier Jahren ist sie dann ausgebrochen, und es wird einfach von Jahr zu Jahr schleichend schlechter. Aber damit habe ich mich abgefunden, vom Rumheulen würde es ja auch nicht besser. Natürlich gibt es immer wieder Momente, die frustrierend sind. Ich werden zum Beispiel nie Auto fahren können, Fahrrad fahren konnte ich früher, jetzt nicht mehr.



Abendblatt:

Was sehen Sie denn noch und was nicht?

Zilian

(zeigt auf eine Uhr, die etwa fünf Meter entfernt an der Wand hängt): Es ist schon noch ein bisschen mehr als nur hell und dunkel. Ich sehe, dass da eine Uhr ist, kann aber nicht die Ziffern und die Zeiger erkennen. Alles Grobe kann ich rausfiltern, Details wie Muster auf Ihrer Kleidung nicht. Ich erkenne auch Ihre Augenfarbe nicht, kann nur deuten, wo die Augen sind.



Abendblatt:

Gibt es Heilungs- oder Therapiemöglichkeiten?

Zilian:

In Kuba gibt es beispielsweise etwas. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass es dadurch besser wird, liegt nur bei zehn Prozent. Außerdem soll die Behandlung 16 000 Dollar kosten, die nicht von der Krankenkasse getragen werden. Und selbst habe ich das Geld als Student nicht.



Abendblatt:

Trainieren sie eigentlich mit blinden oder sehenden Leuten?

Zilian:

Mittlerweile nur noch mit normalen. Ich trainiere fünf Mal in der Woche im Verein und im Landesleistungszentrum, dazu kommt noch Kraft- und Ausdauertraining. Angefangen habe ich aber vor acht Jahren in einer Gruppe mit Seh- und Geistigbehinderten, die hauptsächlich aus Leuten aus dem Internat bestand, das ich besucht habe.



Abendblatt:

Hat man sie in dieser Gruppe schon für das Nationalteam entdeckt?

Zilian:

Die Trainerin meinte damals, dass ich es mit Leistungssport versuchen sollte. Aber da hatte ich erst gar keine Lust drauf. Ich hatte immer Angst, in andere Gruppen zu gehen. Wenn du irgendwo neu bist, wirst du ganz anders behandelt. Und wenn die Leute dann auch noch wissen, dass du behindert bist, gehen alle sowieso erstmal auf Abstand. Deshalb sag ich nie, dass ich behindert, sondern stark kurzsichtig bin. Man wird sonst einfach in eine Schublade gesteckt. Ich bin zwar blind - aber nicht blöd. Viele Leute sind trotzdem hilflos, wissen nicht, was sie mit dir anfangen sollen. Da bin ich schon oft enttäuscht worden.



Abendblatt:

Und warum haben Sie doch den Schritt in den Leistungssport gewagt?

Zilian:

Als ich meine erste deutsche Meisterschaft gekämpft habe, habe ich die Jungs von der Nationalmannschaft gesehen, und das hat mich motiviert. Fünf Jahre später hatte ich auch so ein Jäckchen wie sie. Am Anfang habe ich aber überhaupt nichts gerissen, doch dann kam es irgendwann.



Abendblatt:

Jetzt sind sie 22 und wurden kurzfristig für Peking nachnominiert. Haben Sie deshalb Olympia an gleicher Stelle besonders verfolgt?

Zilian:

Gar nicht so sehr. Judo habe ich natürlich ein bisschen geguckt, weiß also, dass Ole Bischof Gold geholt hat und sonst gar keiner. Grundsätzlich interessiert mich aber nicht wirklich, wer irgendwo Weltmeister oder Olympiasieger wird. Meine Bundestrainerin hat mich wegen meiner Wissenslücken sogar schon mal einen Sportanalphabeten genannt.



Abendblatt:

Was reizt Sie dann am Sport?

Zilian:

Mir hat immer die Bewegung gut getan. Früher habe ich auch schon Taekwondo und Karate gemacht, war im Fußballverein. Aber nie, um mich irgendwie zu profilieren. Ich hatte einfach immer Spaß daran, Sport zu machen. Dem Judo habe ich außerdem zu verdanken, dass ich wieder Bezug zum normalen Leben gefunden habe.



Abendblatt:

Wie meinen Sie das?

Zilian:

Ich habe zunächst eine Regelschule besucht und dort schlimme Erfahrungen mit Mobbing und Hänseleien gemacht. Kinder können wirklich grausam sein, das schwächste Glied bleibt zurück. Vor allem die siebte, achte Klasse war grauenhaft. Später bin ich dann aufs Internat für Sehbehinderte gekommen, habe drei Jahre dort verbracht. Wir haben es das Getto genannt. Ich wollte immer auch Kontakt mit anderen Leuten haben. Der Sport hat mir das ermöglicht.



Abendblatt:

Jetzt ermöglicht er Ihnen die Teilnahme an einem Großereignis. Was erwarten Sie von Ihrer Premiere bei den Paralympics?

Zilian:

Ich bin nicht der Typ, der sich groß Gedanken macht, was einen da erwartet. Das richtige Fieber wird bei mir erst kurz vor dem Wettkampf da sein.



Abendblatt:

Kann es passieren, dass Sie auf der Matte plötzlich einem angeblich Blinden gegenüber stehen, der sehen kann?

Zilian:

Man denkt schon manchmal, dass bei den Augen geschummelt wird, sich Leute irgendwie durch den Augenarzttest mogeln. Da gibt es Nationen, bei denen man echt ins Grübeln kommt. Einmal tauchte aus dem Nichts ein Argentinier auf, der sich schon mal anders bewegte. Und wenn der dann aus einer gewissen Entfernung auf sein Handy guckt, kann er mir nicht erzählen, dass er stark sehbehindert ist.



Abendblatt:

Was kann man dagegen tun?

Zilian:

Man muss einfach auf die Ärzte vertrauen. Es wurden auch schon oft genug welche disqualifiziert. Auf der anderen Seite gab es zum Beispiel einen Judoka aus Aserbaidschan, der auch aus dem Nichts zur WM kam und sich für die Paralympics qualifizierte. Der tritt dort dann noch mal an, gewinnt vielleicht eine Medaille und kriegt dafür zuhause ein bisschen Geld - und kommt dann nie wieder. Aber das muss man wohl einfach hinnehmen.



Abendblatt:

Was gibt es für Sie an Geld zu holen?

Zilian:

Wir kriegen nichts. Es gibt ein paar Leute, die Verträge über ihren Stützpunkt haben und so Prämien bekommen. Wenn es bei mir mit der Medaille klappt, mache ich natürlich trotzdem einen Freudensprung. Mein Ziel ist aber wie bei der WM Rang sieben. Dann behalte ich in jedem Fall meine Förderung.



Abendblatt:

Ihre Vorbereitungszeit war relativ knapp.

Zilian:

In den zwei, drei Wochen, seit ich weiß, dass ich dabei bin, konnte man natürlich nicht mehr so viel rausholen. Irgendwie macht es das für mich aber einfacher, ich setze mich nicht so unter Druck. Die Bundestrainerin hat vor kurzem zu mir gesagt: Wenn du's versaust, wird dir keiner böse sein, aber wenn du was reißt, heben sie dich alle in den Himmel. Eigentlich ist es ohnehin ganz einfach: Alles, was über 100 Kilo wiegt, muss ich umhauen.



Interview: Dirk Steinbach