Boxen: Wie Universum-Profi Jürgen Brähmer erfolgreich um seine letzte Chance kämpfte. Der Supermittelgewichtler wurde gestern aus der Haft entlassen und könnte am 28. September in Hamburg sein Comeback feiern.

Schwerin. Am schlimmsten waren die Nächte, in denen er in seiner Acht-Mann-Zelle in der Justiz-Vollzugsanstalt (JVA) Neustrelitz auf der Pritsche lag und die Gedanken kreisten. Wie geht es weiter mit meinem Leben? Habe ich meine letzte Chance vertan? Ist dies meine Bestimmung, ein Leben in einer Zelle, ohne Ziel, ohne Perspektive? In diesen Nächten hat Jürgen Brähmer daran gedacht, alles hinzuwerfen. Bis er sich irgendwann auf das besann, was er am besten kann: kämpfen. Gestern wurde er dafür belohnt. Das Oberlandesgericht Rostock wies die sofortige Haftentlassung des 26jährigen an. Am 28. September, darüber wird er sich heute mit seinem Promoter Klaus-Peter Kohl beraten, könnte Brähmer in Hamburg im Rahmen der Schwergewichts-WM Luan Krasniqi - Lamon Brewster sein Comeback im Boxring feiern. Eine sensationelle Wende. Doch der Reihe nach.

Jürgen Brähmer gilt vielen Experten als das "Jahrhundert-Talent" im deutschen Boxen. Von November 1999 bis Oktober 2002 hat er 24 Profikämpfe für die Hamburger Universum Box-Promotion bestritten - und alle gewonnen, davon 21 durch Knockout. Er hat alles, was ein Boxer braucht, um es ganz nach oben zu schaffen: Schnelligkeit, Schlagkraft, ein gutes Auge und den Killerinstinkt, um Kämpfe vorzeitig zu beenden. Doch er hat auch einen Gegner, der ihm bislang immer überlegen war: den Hang, auch außerhalb des Ringes zuzuschlagen.

1998 wird Brähmer wegen gemeinschaftlichen Raubes mit einhergehender Körperverletzung zu einer 42monatigen Jugendstrafe verurteilt. Während der Haft kommt das Angebot von Universum, Profi zu werden. Brähmer, der 1993 in seiner Heimat Stralsund mit dem Boxen begann und 1994 vom damaligen Landestrainer Michael Timm nach Schwerin geholt wurde, willigt ein. Timm ist nun Trainer bei Universum und kümmert sich wie ein Vater um Brähmer, trainiert mit ihm im Jugendgefängnis Hahnöfersand. Als Freigänger macht Brähmer im November 1999 seinen ersten Kampf, im September 2000 wird die Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Der Weg zum WM-Titel scheint geebnet. Bis zu jenem Tag im Herbst 2002.

An diesem Tag ist Brähmer per Auto in Hamburg unterwegs. Obwohl er keinen Führerschein besitzt, fährt er selbst, weil sein Fahrer verhindert ist. Als er im dichten Verkehr versehentlich ein anderes Fahrzeug rammt, weiß er: Wenn jetzt die Polizei ins Spiel kommt, ist er erledigt, denn die Bewährung läuft noch. Er versucht, sich mit dem Geschädigten gütlich zu einigen, doch der will per Handy die Ordnungshüter informieren. Brähmer sieht in seiner Bedrängnis nur einen Ausweg: Er schlägt seinen Unfallgegner bewußtlos und begeht Fahrerflucht. Natürlich bleibt die Tat nicht unentdeckt. Konsequenz: Brähmer wird wegen gefährlicher Körperverletzung und Fahrens ohne Führerschein zu 30 Monaten Haft verurteilt. Das Ende der Karriere?

Brähmer nimmt den Kampf außerhalb des Ringes an und beginnt, sich seinen Problemen zu stellen. In der JVA arbeitet er mit einem Psychologen. 17 Monate lang lernt er mit kognitiver Verhaltenstherapie, neue Wege zu beschreiten. "Ich weiß jetzt, wie mein Handeln auf andere wirkt und wie ich Konflikten aus dem Weg gehen kann", sagt er heute. In der Haft gibt es keine Probleme. In einem Gutachten der JVA Neustrelitz, das dem Abendblatt vorliegt, heißt es: "Vollzuglich war das Verhalten des Gefangenen in der Regel beanstandungsfrei." Auch in der JVA Bützow, in die sich Brähmer verlegen ließ, läuft alles nach Plan. Der Boxer hält sich körperlich fit und Kontakt zu Trainer Timm. Und er bekommt Angebote, auch von Promotern aus den USA. "Das hat mir gezeigt, daß ich noch gefragt bin, und mich angespornt."

Der erste Dämpfer kommt im November 2004. Zwei Drittel der Haft sind verbüßt, Brähmer hofft auf vorzeitige Entlassung, die in der Regel bei beanstandungsfreiem Verlauf gewährt wird. Das Landgericht Rostock entscheidet, die Strafe zur Bewährung auszusetzen. In seiner Begründung schreibt der zuständige Richter Nitschke: "Es handelt sich bei dem Verurteilten um einen deutlich nachgereiften jungen Mann, der sich ernsthaft für die Zukunft einen straffreien Lebenswandel vorgenommen hat." Die Staatsanwaltschaft folgt dieser Ansicht nicht: Ihrer Beschwerde wird vom Oberlandesgericht in Rostock stattgegeben. Brähmer bleibt in Haft.

Im Februar dieses Jahres nutzt er die Chance, als Freigänger in die JVA Waldeck überzusiedeln. Seitdem läßt er sich fast täglich von seinem besten Freund Jens Tietze, den er 1994 auf dem Schweriner Sportinternat kennenlernte, nach Schwerin fahren, wo er mit Universum-Coach Chuck Talhami am Olympia-Stützpunkt trainiert. Dieser ist von Brähmers Können beeindruckt: "Jürgen ist unglaublich beweglich. Von der Fitness her könnte er sofort boxen." Als Freigänger muß er lediglich die Nächte in der JVA verbringen. Tagsüber darf er sich frei bewegen, trainieren, seine langjährige Freundin besuchen, in Cafes gehen. Alles klappt ohne Probleme.

Als im April 2005 die komplette Haftzeit abgesessen ist und die Verbüßung der Rest-Jugendstrafe einsetzt, stellt Brähmer erneut Antrag auf Haftentlassung. Wieder stimmt das Landgericht zu, wieder legt die Staatsanwaltschaft Beschwerde ein. Die zuständige Oberstaatsanwältin begründet dies gegenüber dem Abendblatt mit der "nicht überzeugenden Aktenlage. Danach bin ich zu dem Schluß gekommen, daß Herr Brähmer noch nicht reif für die Entlassung ist". Brähmers Anwalt Kai Helge Marnitz kann sich das nur damit erklären, "daß Jürgen einen Prominentenmalus hat. Er wurde nicht behandelt wie jeder andere, sonst wäre er früher freigekommen". Gestern nun kam die für Brähmer erlösende Nachricht des Oberlandesgerichts, das die Beschwerde der Staatsanwaltschaft ablehnte. In der Erklärung heißt es: "Der Senat ist nach sorgfältigen Analysen zu dem Ergebnis gekommen, daß Brähmer vorzeitig entlassen werden kann und das Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit einer Aussetzung der Vollstreckung des verbliebenen Strafrests nicht entgegensteht."

Natürlich bleiben letzte Zweifel, ob Brähmer den Wandel von der "tickenden Zeitbombe, die er früher war" (Michael Timm) zum beherrschten Profisportler schaffen kann. Augenscheinlich jedoch hat er sich von einem verschlossenen, instinktgesteuerten Jugendlichen in den vergangenen Monaten zu einer reifen Persönlichkeit entwickelt. Er reflektiert seine Taten, die er im Nachhinein als "große Dummheiten" und "viel Blödsinn für nichts" bewertet. Sein letztes Opfer hat er in einem Brief um Entschuldigung gebeten. "Er hat sie angenommen, nimmt mir das nicht krumm und konnte mich sogar verstehen."

Auch im psychologischen Bereich arbeitet Brähmer weiter an sich. Seit Juni 2005 ist er beim Schweriner Diplom-Psychologen Horst Wolter in Behandlung. Dieser schreibt in einem Gutachten: "Jürgen hat es geschafft, seine Einstellung zu seinem vergangenen Leben zu ändern. Durch diese positive Einstellungsänderung ist von einer günstigen Prognose auszugehen, so daß nach unserer Auffassung nicht von weiteren Straftaten auszugehen ist." Brähmer ist fest entschlossen, Ärger in Zukunft aus dem Weg zu gehen. "Ich gehe nicht mehr in Discos, und wenn mir heute komische Gestalten auf der Straße entgegenkommen, wechsle ich auf die andere Seite."

Früher ist er "durch die Leute durch, bis zwei lagen und die anderen abgehauen sind". Warum? Schlimme Kindheit, zu wenig Liebe? "Alles Quatsch", sagt Brähmer, der zu seinen sechs Geschwistern und zu seinen geschiedenen Eltern guten Kontakt hat. Er glaubt zu wissen, was ihn auf die schiefe Bahn brachte. "Nach der Wende brach die Jugendförderung im Osten zusammen. Es gab keine Ordnung, keine Orientierung mehr. Vorher hatten die Tage eine Struktur, und plötzlich war da eine große Leere. Ich habe dann den falschen Umgang gehabt, schon war es zu spät." Er will damit nichts entschuldigen, es ist lediglich der Versuch einer Analyse.

Als er gestern von seiner Entlassung erfuhr, sagte er nur: "Ich bin froh, daß es soweit ist. Aber es gibt nichts zu feiern." Weil er um die Aufgaben weiß, die vor ihm liegen. Und weil er die Fallen kennt. Aber diesen einen Kampf hat er gewonnen. Es war vielleicht sein wichtigster.