Der 39-Jährige über seinen Wunsch, ins Nationalteam zurückzukehren, die Probleme des nächsten Gegners HSV und seine persönliche Motivation, seinen Vertrag beim VfB um ein weiteres Jahr zu verlängern. Bilder aus der Karriere von Jens Lehmann.

Abendblatt:

Vermissen Sie die Nationalmannschaft, Herr Lehmann?

Jens Lehmann:

Wie kommen Sie darauf?



Abendblatt:

Weil Sie trotz Ihres Alters von 39 Jahren mit einer Rückkehr in die DFB-Auswahl kokettieren.

Lehmann:

Ein bisschen vermisse ich die Reisen zur Nationalmannschaft schon. Man darf nicht vergessen: Der DFB war lange Zeit meine fußballerische Ersatzfamilie, gerade als ich im Ausland aktiv war. Ich habe mich dort stets sehr wohl gefühlt.



Abendblatt:

Sind Ihre Anspielungen in Sachen Rückkehr ins DFB-Tor also als eine Art Versuch zu werten, die "gute alte Zeit" aufleben zu lassen?

Lehmann:

Nein, ganz bestimmt nicht. Die Nationalmannschaft war jahrelang meine Motivation, meine Antriebsfeder. Nach meinem letzten Spiel für Deutschland im Finale der EM 2008 habe ich zunächst gedacht, dass dieses Kapitel beendet wäre. Nach meinen Erfahrungen der vergangenen zehn Monate hat sich die Lage aber ein wenig geändert. Ich sehe eine Situation, die noch nicht optimal gelöst wurde. Ich habe die DFB-Bühne als Nummer eins verlassen und bin seither der einzige Torwart der vermeintlichen Kandidaten, der durchgängig trainiert und gespielt hat (Adler, Neuer, Wiese und Enke hatten allesamt Verletzungspausen, die Red.). Ich habe mich gedanklich mit der Thematik auseinandergesetzt und für mich entschieden, dass ich mir eine Rückkehr ins deutsche Tor vorstellen könnte. Das ist keine Idee aus irgendeiner Laune heraus. Der Erste, dem ich diese Überlegung telefonisch mitgeteilt habe, war Joachim Löw.



Abendblatt:

Der Bundestrainer hat sich aber nach langem Schweigen ebenso wie Torwarttrainer Andreas Köpke gegen Ihre Rückkehr ausgesprochen. Meinen Sie nicht, dass es angesichts Ihres Alters Zeit für einen Generationswechsel im deutschen Tor ist?

Lehmann:

Es ist lustig, dass bei dieser Diskussion immer nur über mein Alter gesprochen wird, was ich ja nachvollziehen kann. Ich fasse das als Kompliment auf, denn bislang hat niemand gesagt: Der ist zu schlecht!



Abendblatt:

Offenbar halten Sie aber die aktuellen Kandidaten für zu schwach.

Lehmann:

Es liegt mir fern, die Qualität anderer Torleute zu bewerten. Wir haben in Deutschland mehrere Torhüter mit großem Potenzial. Aber bei einem großen Turnier wie der anstehenden WM geht es nicht darum, wer von den potenziellen Spitzenleuten in Deutschland gegen wen konkurriert und sich am Ende durchsetzt. Da hat man im internationalen Vergleich möglicherweise ein Problem, wenn man zum Schluss kommt, dass man keinen Mann hat, der den Ansprüchen genügt und sich mit der internationalen Konkurrenz messen kann.



Abendblatt:

Sprechen wir über Ihren Klub. Können Sie die Wandlung des VfB von einem leistungsschwankenden Mittelmaß-Verein in der Hinrunde zu einem Titelkandidaten in der Rückserie erklären?

Lehmann:

Ein Erklärungsansatz ist in jedem Fall die besser werdende Organisation auf dem Rasen. Unsere ehemaligen Trainer Armin Veh und Alfons Higl haben das bereits auf den Weg gebracht, Markus Babbel und sein Trainerteam arbeiten seither sehr gezielt daran. Außerdem konnten wir die vielen leichten individuellen Fehler, die uns in der Hinserie gekennzeichnet haben, weitgehend abstellen.



Abendblatt:

Welchen Anteil hat der neue Coach konkret?

Lehmann:

Einen großen. Er hat eine gute Art mit der Mannschaft umzugehen und sie darauf hinzuweisen, dass die Saison bislang noch nicht zufriedenstellend verlaufen ist. Er findet im Training eine gute Balance zwischen Belastung und Erholung, so dass wir uns in einer guten körperlichen Verfassung befinden. Man merkt unserem Trainer an, dass er selbst auf höchstem Niveau als Spieler aktiv war. Er liefert den Spielern präzise, griffige Erklärungen - gerade in taktischer Hinsicht.



Abendblatt:

Überrascht es Sie, dass Stuttgart trotz der Hinrunde plötzlich wieder zu den Titelkandidaten zählt?

Lehmann:

Wir brauchen uns nichts vorzumachen. Unsere Möglichkeit, noch weiter nach oben zu kommen, ist vor allem dadurch bedingt, dass die anderen Klubs bislang nicht so stark gespielt haben. Wir selbst haben aber auch keine sehr gute Saison gespielt.



Abendblatt:

Was sagen Sie zum nächsten Gegner HSV?

Lehmann:

Für den gilt in etwa dasselbe wie für uns. Auch die Hamburger haben sich in der bisherigen Saison immer mal wieder einen Ausrutscher geleistet, der einem Team ganz oben in der Tabelle eigentlich nicht passieren darf. Dennoch steht der Klub auf Rang zwei, und ich erwarte ein spannendes Duell. Trainer Martin Jol ist für den HSV mit Sicherheit ein echter Gewinn. Seine Teams prägt eine gute Organisation, der HSV tritt geordnet und diszipliniert auf, hat zudem ein paar Spieler in seinen Reihen, die den Unterschied ausmachen können. Nach ganz oben ist wie bei uns aber noch sehr viel Luft.



Abendblatt:

Piotr Trochowski gilt als einer dieser Spieler mit hoher Individualqualität. Bereiten Sie sich als Torwart vor einem Duell besonders auf solche Kontrahenten vor?

Lehmann:

Nein, wir haben häufig genug zusammen trainiert und gespielt beim DFB. Außerdem glaube ich, dass er selbst manchmal überrascht ist, wie seine Schüsse fliegen. So richtig kann man sich darauf gar nicht vorbereiten, weil das auch immer mit der Beschaffenheit des jeweiligen Spielballes zu tun hat.



Abendblatt:

Freuen Sie sich, dass der DFB einen einheitlichen Spielball einführen will? Das würde Ihre Arbeit berechenbarer machen.

Lehmann:

Wenn er schon zur nächsten Saison eingeführt wird, freue ich mich wirklich. Ansonsten wäre es mir egal.



Abendblatt:

Sie haben Ihren Vertrag gerade um ein Jahr verlängert. Ist danach definitiv Schluss?

Lehmann:

Ja. Irgendwann reicht's auch. Bis 2010 plane ich, darüber hinaus nicht.



Abendblatt:

Hat der VfB gegen den HSV einen physischen Vorteil, weil Hamburg noch in drei Wettbewerben vertreten ist?

Lehmann:

Das hoffe ich doch. Angesichts dieser vielen Spiele gegen qualitativ hochwertige Mannschaften ist es aus meiner Erfahrung fast unmöglich, in jedem Spiel die 100 Prozent Leistungsfähigkeit abzurufen. Wenn ein Team jung und hungrig ist, verausgabt es sich manchmal zu sehr, wenn es zu alt ist, fehlt die Zeit zur Erholung. In dieser Phase der Saison kommen so viele Komponenten zusammen, dass Prognosen schwer sind.



Abendblatt:

Ihre körperliche Verfassung scheint kein Problem zu sein. Werden Sie im Training trotzdem schon mal als Torwart-Opa oder Team-Greis verspottet?

Lehmann:

Überhaupt nicht, was aber auch an meinen hohen Einsatzzeiten in Spielen und Training liegen dürfte. Meine jungen Kollegen wissen, dass sie eher mit Sprüchen von mir rechnen müssen, wenn sie mal nicht trainieren.



Abendblatt:

Gibt es bei Ihnen keine Anzeichen des Alterns?

Lehmann:

Ab und zu merke ich nach Trainingseinheiten Körperstellen, die dem Verschleiß von mehr als 20 Profijahren unterliegen. Glücklicherweise sind das aber keine Schmerzen - sonst hätte ich wahrscheinlich längst aufgehört.



Abendblatt:

Nehmen Sie etwas zur Leistungskonservierung?

Lehmann (lacht):

Gedopt bin ich nicht. Aber seit sechs Jahren tue ich bewusst mehr für meinen Körper. Seit meinem Wechsel nach England nimmt das täglich in etwa eine halbe Stunde mehr in Anspruch. Zudem habe ich wohl genetisch bedingtes Glück, dass ich leicht und beweglich statt schwer und massig bin.



Abendblatt:

Und wie sieht es mit der mentalen Stabilität aus? Was treibt Sie jeden Tag an?

Lehmann:

Ganz einfach: Ich habe mir vor der Saison persönliche Ziele gesetzt, denen wir langsam näher kommen. Und ich habe mir nach der Zeit bei Arsenal London bewusst ausgesucht weiterzuspielen. Das beinhaltet, dass ich nicht in Einheiten und Spiele gehe, um vor mich hinzuwurschteln, sondern die Zeit nutze und Gas gebe. Hinzu kommt, dass die jungen Torhüter auch beim VfB immer besser werden. Das bedeutet Konkurrenz, das stachelt mich an. Ich liebe diesen täglichen Kampf.