Schwimm-Weltrekordler Steffen Deibler und Paralympics-Siegerin Kirsten Bruhn über Doping, Motivation und Behinderung

Hamburg. Kirsten Bruhn, 42, und Steffen Deibler, 24, kommen gerade vom Training, sie aus Neumünster, er aus dem Hallenbad am Olympiastützpunkt in Hamburg-Dulsberg. In der olympischen Saison zählt jede Wassereinheit. Während Bruhn bereits für die Paralympics in London (29.8.-9.9.) qualifiziert ist, muss Deibler noch zu den Sommerspielen (27.7-12.8.) schwimmen. Dazu bietet sich für ihn vom 10. bis 14. Mai bei den deutschen Meisterschaften in Berlin die erste Gelegenheit. Beim Gespräch an der Poppenbütteler Schleuse treffen sich beide zum ersten Mal und stellen fest, dass sie ähnlich denken und fühlen. Für beide steht nicht der Sieg im Vordergrund, sondern die persönliche Bestleistung. "Alles andere können wir nicht beeinflussen", sagen die seit ihrem Motorradunfall 1991 querschnittgelähmte zweimalige Paralympics-Siegerin Bruhn und der Kurzbahn-Weltrekordler Deibler.

Hamburger Abendblatt:

Frau Bruhn, Herr Deibler, Sie trinken hier im Restaurant Ihre Getränke, ohne zu wissen, woher diese kommen, was für Substanzen in ihnen drin sein könnten. Haben Sie keine Angst, dass man Ihre Speisen und Getränke mit Dopingmitteln manipulieren könnte?

Steffen Deibler:

Wenn ich darüber nachdenken würde, dürfte ich nur noch Geprüftes zu mir nehmen. Dann dürfte ich nicht mehr im Supermarkt einkaufen und hätte gar kein freies Leben mehr.

Kirsten Bruhn:

Ich habe da überhaupt kein Misstrauen.

Weil paralympische Sportler im Gegensatz zu den Fußgängern nicht dopen?

Bruhn:

Ich jedenfalls nicht. 2008 in Peking wurde ein Rollstuhlbasketballer erwischt, der hatte ein verbotenes Haarwasser benutzt, um schöner auszusehen. Grundsätzlich glaube ich, haben wir dieselbe Motivation wie die olympischen Athleten. Ich würde daher für niemanden meine Hand ins Feuer legen, nicht mal den kleinen Finger!

Deibler:

Benutzt du auch Adams, das Online-Meldesystem der Welt-Antidoping-Agentur (Wada)?

Bruhn:

Ein Horror, aber ja.

Sie müssen zum Teil Wochen im Voraus für jede Stunde angeben, wo Sie sich aufhalten werden, damit Sie unangemeldet kontrolliert werden können.

Deibler:

Man gewöhnt sich daran. Ich bin auch nicht übertrieben kleinlich, dieses Treffen hier habe ich zum Beispiel nicht angegeben.

Bruhn:

Was verlangt wird, ist schlicht nicht umsetzbar, schon gar nicht als Berufstätige. Wenn man wie ich im Außendienst tätig ist und Termine hat, die nicht bis ins Detail im Voraus planbar sind, bekommt man Probleme.

Deibler:

Es gibt auch andere Länder, in denen ähnliche Bedingungen für Spitzensportler herrschen. Andererseits sind die Kontrollen in Deutschland strikter als anderswo. Letztlich dienen sie dem Schutz der sauberen Athleten. Wenn ich mir aber ständig vorstellen würde, wer alles dopen könnte, würde mir das den Spaß an meinem Sport nehmen. Dadurch, dass ich als Weltrekordler sauber bin und sogar noch Reserven habe, bin ich überzeugt, dass es möglich ist, auch ohne zu schummeln ganz vorne dabei zu sein. Ich möchte auch die 60 Jahre, die mir nach meiner Sportlerkarriere hoffentlich noch bleiben, gesund und ohne Folgeschäden erleben.

Gerade im Schwimmen gab es zuletzt absurde Fälle: Dopingtäter wurden nicht gesperrt und holten weiter Titel.

Deibler:

Je mehr Geld im Spiel ist, desto mehr lohnt sich der Betrug. In der Leichtathletik ist es daher wohl extremer. Neulich habe ich gelesen, dass eine Dopingkur etwa 50 000 Euro kostet. Wer kann sich im Schwimmen diese Ausgabe leisten? Eine solche Investition lohnt sich nur in wenigen Sportarten.

Sprechen wir über Ihre Motivation: Ist bei Ihnen, Frau Bruhn, die Motivation nicht doch ein wenig höher? Weil Sie der Welt zeigen wollen, wie funktionsfähig Sie trotz Behinderung sind?

Bruhn:

Definitiv nicht. Ich war schon ohne Behinderung Leitungsschwimmerin. Der Motor, der mich antreibt, ist noch derselbe. Ich kämpfe mit mir selbst und versuche das Beste aus mir rauszuholen. Wenn ich dabei das Glück habe, dass meine Bestzeit auch die beste der Welt ist, habe ich einen doppelten Gewinn. Aber für mich ist mein Ziel erreicht, wenn ich meine Zeit verbessere.

In den Jahren nach Ihrem Unfall diente Ihnen der Leistungssport zunächst in erster Linie als Reha-Maßnahme, als Weg, um den Alltag überhaupt zu bewältigen. Wie wichtig ist der Sport für Menschen mit Behinderungen?

Bruhn:

Für mich war Sport das Nonplusultra. Ich hatte nach meiner Querschnittlähmung nicht mehr das Gefühl zu leben. Ich habe nur noch existiert, ohne Perspektive, Wünsche und Ziele. Ich wollte das Gefühl haben, gebraucht zu werden, zu irgendetwas nützlich zu sein, und ich hatte dieses Gefühl auf einmal nicht mehr. Ziemlich schnell nach meinem Unfall habe ich eine trockene Bürojob-Lehre begonnen, was ich mir nie gewünscht hätte. Im Gegensatz dazu war das Feeling, mal wieder Adrenalin in den Adern zu spüren und in Wettkämpfe zu gehen, genau das, was mir gefehlt hatte. Plötzlich hatte ich wieder das Gefühl zu leben, doch noch etwas aus meinen Extremitäten herausholen zu können. Und dabei habe ich mich schnell und stetig verbessert. Das war für mich der Anreiz, weiterzumachen.

Herr Deibler, worauf gründet sich Ihre Motivation? Sind es persönliche Bestzeiten oder doch Titel und Weltrekorde?

Deibler:

Wer so hart wie ich im Training arbeitet, hat einfach Spaß an Wettkämpfen. Und wenn dann noch der Erfolg da ist, ist es einfach ein geiles Gefühl. Ich kann die Nebenbahnen ja nicht kontrollieren. Was ich in der Hand habe, sind meine persönlichen Zeiten. Natürlich träumt man von Titeln, aber ich bleibe realistisch. In London will ich über 100 Meter Schmetterling, 100 Meter Kraul und 50 Meter Kraul ins Finale kommen - und wenn ich im Endlauf mit einer super Zeit nur Sechster werde, bin ich zufrieden. Mir gibt der Schwimmsport viel für das Leben außerhalb des Beckens. Die Endorphine, die Erfolge oder hartes Training freisetzen, machen einfach Laune. Zusätzlich habe ich das Privileg, viel unterwegs zu sein und viele Leute kennenzulernen. Olympia 2008 in Peking war ein grandioses Erlebnis, das ich unbedingt wiederholen will. Ein solches Ziel zu erreichen gibt einem mehr zurück als das, was man investiert hat.

Frau Bruhn, wie wichtig ist es für den paralympischen Sport, dass im dritten Jahr parallel zu "Jugend trainiert für Olympia" ein eigener Wettbewerb "Jugend trainiert für Paralympics" stattfindet?

Bruhn:

Das ist ein wichtiger Schritt, weil das Bewusstsein gefördert wird, dass behinderte Menschen Sport treiben können. Kindern und Jugendlichen wird dadurch ein Weg aufgezeigt, über den Tellerrand ihrer Schulen und Einrichtungen zu blicken. Es muss gar nicht im Hinblick auf die Paralympics sein, wichtig ist, überhaupt anzufangen. Durch den Breitensport, der einfach guttut und eine soziale Komponente mit sich bringt, werden die Motivation und der Ehrgeiz geweckt. Was folgt, ist ein Automatismus, der aus meiner Sicht schon in vier bis fünf Jahren zu einer deutlich positiven Entwicklung des Behindertensports führen wird.

Werden durch die Rehamaßnahmen nicht ohnehin viele Menschen mit Behinderungen an den Sport herangeführt?

Bruhn:

Genau da liegt das Problem: Es sind ja nicht nur Menschen nach Unfällen gehandicapt, es werden auch viele mit Behinderungen geboren. Gerade hier muss man Eltern immer wieder zeigen: Auch Ihr Kind kann Sport machen - und zwar auch auf höchstem Niveau, nicht nur einmal im Monat beim Wasserplanschen. Trotz der Behinderung kann ein Kind aktiv sein, Spaß daran haben und dadurch auch im sozialen Bereich wachsen. Hier kommt der Faktor Integration ins Spiel.

Ist das ein zentrales Thema, dass Sie bei Ihren Vorträgen aufgreifen, um Menschen zu motivieren?

Bruhn:

Natürlich versuche ich durch die Berichte über mein Schicksal und die Zeit nach dem Motorradunfall, Mut zu machen. Ich dachte ja nach meinem Unfall oft, es würde nicht weitergehen, und hatte oft keine Lust mehr aufs Leben. Da gab es schon den einen oder anderen Tag, an dem ich gerne von einer hohen Brücke gesprungen wäre. Aber es geht immer weiter, und es bringt auch immer wieder Spaß. Man muss sich dabei nur auf seine Möglichkeiten einstellen.

Deibler:

Ich bewundere dich, wie du dein Leben meisterst und dazu noch im Sport Höchstleistungen bringst.

Frau Bruhn, was waren es für Tage, an denen Sie nicht weiterleben wollten?

Bruhn:

Schlechte Tage, an denen die Schmerzen alles bestimmten. Wenn man in der Rehabilitation nicht weiterkam und keine Perspektiven sah.

Gab es diese Momente heute noch?

Bruhn:

Ich habe wie jeder mal schlechte Tage. Ich mag für Außenstehende so wirken, als wäre ich mit mir im Reinen. Das freut mich, es ist aber leider nicht immer so. Wenn zu normalen Alltagssorgen oder privaten Problemchen noch eine Beleidigung kommt, weil man behindert ist, dann ist das etwas, was das Fass zum Überlaufen bringt.

Wie stark vermissen Sie es, dass Sie sich nicht normal bewegen können?

Bruhn:

Ich habe für mein Leben gern getanzt, und Rollstuhltanzen ist nicht mein Ding. Hohe Schuhe tragen, schicke, kurze Kleider tragen - das fehlt mir. Auch das Spontansein: einfach mal an den Strand gehen zum Beachvolleyballspielen. Fahren Sie mal mit dem Rollstuhl an den Strand, da stehen Sie im wahrsten Sinne auf der Stelle.

Viele Menschen ohne Behinderungen führen ein sitzendes Leben, sei es im Büro oder zu Hause vor dem Fernseher.

Bruhn:

Aber sie können aufstehen und sich frei bewegen. Schön doof, wer das nicht ausnutzt. Auch wenn das moderne Leben keine großen Bewegungsradien mehr fordert, ist doch jeder aufgerufen, dass von sich selbst zu fordern. Es ärgert mich regelrecht und macht mich sehr traurig, wenn Menschen ohne Behinderungen ihr Potenzial so wenig nutzen.

Herr Deibler, können Sie sich vorstellen, jenseits der 40 noch sportlich aktiv zu sein wie Kirsten Bruhn?

Deibler:

Sportlich aktiv ja - Schwimmprofi auf keinen Fall.

Sind Frauen eher geeignet, in höherem Alter noch Spitzenleistungen zu bringen?

Deibler:

Ich kann mir vorstellen, dass es körperlich auch über 40 Jahren noch möglich ist. Aber irgendwann dominiert der Gedanke: Okay, jetzt reicht es.

Gibt es bei Ihnen erste Gedanken ans Aufhören, Frau Bruhn?

Bruhn:

In London sind meine letzten Paralympics. Mit 47 Jahren möchte ich nicht 2016 in Rio starten. Da bräuchte ich ja schon ein Reanimationszelt und Rundumbetreuung. Ich möchte einfach, dass man sieht, wie fit ich noch bin. Spätestens 2013 ist für mich Schluss.