Der Deutsch-Afghane aus Hamburg will in Kabul den ersten Profi-Boxkampf bestreiten. Der Weg bis dahin war nicht immer leicht für den 26-Jährigen.

Hamburg. Vielleicht war es eine Vorahnung, die Hamid Rahimi veranlasste, sich zu Beginn seiner Profiboxkarriere im November 2006 den Kampfnamen „The Dragon“ auszuwählen. „Der Drache“, sagt er, „ist das stärkste Fabeltier, das es gibt. Er kann fliegen, schwimmen, Feuer spucken, er kommt in allen Situationen klar.“ Der 26-Jährige wird die Zähigkeit des Drachen in den kommenden Monaten benötigen, denn er hat ein Ziel, dessen Verwirklichung Kraft kosten dürfte, die ein normaler Mensch kaum aufbringen kann.

Hamid Rahimi möchte im Oktober in seiner Heimatstadt Kabul den ersten Profiboxkampf auf afghanischem Territorium austragen. Gekämpft werden soll im Ghasi-Stadion, dem Ort, der durch die öffentlichen Hinrichtungen weltweit bekannt wurde, die die radikal-islamischen Taliban bis zum Einmarsch der internationalen Truppen (ISAF) im Oktober 2001 dort verübten. Unter dem Motto „Fight for Peace“ (Kämpfen für den Frieden) möchte Rahimi seinen Landsleuten einen Abend lang Ablenkung vom seit mehr als 30 Jahren schwelenden Krieg schenken. Vor allem aber möchte er als deutscher Staatsbürger, der er seit seinem 18. Lebensjahr ist, für Völkerverständigung werben, er will den Afghanen deutlich machen, „dass die deutschen Soldaten als Freunde ins Land gekommen sind“, und er möchte versuchen, „eine Brücke zu bauen zwischen Deutschen und Afghanen, die leider viel zu wenig voneinander wissen.“

Es ist laut im „Alex“ am Jungfernstieg, wo Hamid Rahimi an diesem verregneten Nachmittag seine Geschichte erzählt. Er lacht wenig in den gut zweieinhalb Stunden, die das Gespräch über die „Wahnsinnsidee“, wie sein Hamburger Manager Carsten Holst (42) gern sagt, dauert. Er ist eigentlich ein lebensfroher Typ, der mittlerweile über seine Lebensgeschichte lachen kann, weil er weiß, „dass viele Afghanen von dem Leben, das ich jetzt führen kann, ihr Leben lang nur träumen.“ Aber es ist dieser Ernst in seinen dunklen Augen, der Ausdruck auf dem runden Gesicht mit dem akkurat gestutzten Dreitagebart, und die Vehemenz der Worte, die er zwischen den massigen Lippen hervorstößt wie Fausthiebe auf einen Sandsack, die keinen Zweifel daran lassen, dass Rahimi alles dafür geben wird, um seine Vision zu realisieren.

Als jüngstes von vier Geschwistern wuchs Rahimi in einem der privilegierten Stadtteile Kabuls auf. Vater Amin als Landwirtschaftsingenieur und Mutter Fatima als Vize-Direktorin einer russisch-afghanischen Schule gehörten zur Bildungselite, der Familie ging es finanziell gut. Der im Land tobende Krieg zermürbte sie jedoch. Dreimal pro Woche wurde ihr Viertel von Raketen beschossen – ob es russische oder die der Mudschaheddin waren, wusste niemand. Die Rahimis verbrachten viele Nächte im heimischen Badezimmer, wo sie sich sicher wähnten – ein Trugschluss, da Kacheln und Fliesen, die es in Badezimmern gibt, bei Explosionen durch Splittern heftige Verletzungen hervorrufen. Aber auch das wusste niemand.

Der Tod war Dauergast in Hamids nächster Umgebung. Seinen besten Freund Sami verlor er, als dieser nach einem gemeinsamen Eisdielen-Besuch noch einmal zurücklief, weil ihm sein Eis heruntergefallen war. Eine an einem Fahrrad deponierte Bombe tötete ihn. Als bei einem Raketenbeschuss im Kindergarten mehrere von Hamids Spielkameraden starben, brach der Fünfjährige unter der Last des Erlebten zusammen. In der Nacht nach dem Angriff bekam er Fieber und wurde ins Krankenhaus gebracht, das er acht Monate nicht verlassen konnte. Eine halbseitige Lähmung des ganzen Körpers fesselte ihn ans Bett, die Ärzte befürchteten eine vollständige Lähmung und einen kompletten Sprachverlust. Seine Mutter gab ihren Beruf auf und kümmerte sich rund um die Uhr um den jüngsten Sohn. Heute hat er keinerlei körperliche Einschränkungen. „Meine Mutter hat mich mit ihrer Fürsorge gerettet“, sagt er.

Sie war es auch, die 1993 die Flucht der Familie organisierte. Der Vater, ein erklärter Antikommunist, der seinen Töchtern Jacqueline und Julie aus Protest gegen das Regime französische Namen gab, hatte das Land bereits zwei Jahre zuvor verlassen müssen und lebte bei einer Tante in Hamburg, das deshalb auch zum Ziel der restlichen Familie wurde. Über Russland und Tschechien kamen die Rahimis nach einem gescheiterten Versuch, die deutsche Grenze zu passieren, per Zug am Hauptbahnhof an. Rund eineinhalb Jahre lebten sie in einer Flüchtlingspension am Steindamm, die „Kabul“ hieß, zu sechst in einem Zimmer. Als dem Asylantrag stattgegeben wurde, ging es in eine Sozialwohnung nach Jenfeld, in der die Eltern noch heute leben. Der herzkranke Vater ist Rentner, die Mutter arbeitet als Schneiderin. Wie so viele aus der afghanischen Elite, die sich heute mit Tätigkeiten über Wasser halten, die ihrer Ausbildung nicht angemessen sind.

Mit der Ankunft in Deutschland begann für Hamid ein neues Leben, das jedoch ganz andere Tücken bereithielt. „Silvester zum Beispiel war ein schrecklicher Tag für mich, weil mich das Knallen an den Krieg in der Heimat erinnerte“, sagt er. In der Schule wurde der Zehnjährige schnell gehänselt, weil er die Sprache nicht konnte. An einen nasskalten Herbsttag erinnert er sich genau, weil es der Tag war, der seinem Leben eine weitere Wendung gab. Drei Jungs schossen ihm wiederholt mit einem Fußball gegen den Kopf, und weil er sich mit Worten nicht zu helfen wusste, verlor er die Nerven und verprügelte das Trio. „Seitdem waren alle nett zu mir und haben mich respektiert“, sagt er. Es war der Eintritt in einen Kreislauf der Gewalt, der nach diversen Körperverletzungs-Delikten im Jugendgefängnis Hahnöfersand endete.

Sieben Monate saß Rahimi dort, er hatte Zeit zum Nachdenken, und er bekam von seiner ältesten Schwester Jacqueline, einer Rechtsanwältin, ein Buch, das abermals sein Leben ändern sollte. „Der Tiger bin ich“, in dem der frühere Halbschwergewichtsweltmeister Dariusz Michalczewski seinen Werdegang schildert, wies dem reuigen Sünder den Weg in den Boxring. Wieder in Freiheit, begann er, beim TH Eilbeck als Amateur zu kämpfen. „Das Boxen hat mich Disziplin gelehrt und mir den Weg aufgezeigt, meine Aggressionen kontrolliert abzubauen“, sagt er.

Sein Geld verdiente der 181 cm große Athlet zunächst als Partyveranstalter und Gastronom. In der Langen Reihe betrieb er die „Buddha Lounge“, eine Begegnungsstätte für Buddhisten, Moslems wie ihn und Christen wie seinen besten Freund Fahmi Baylan. „Toleranz“, sagt er, „war für mich schon damals die wichtigste Grundregel.“ Seine Mutter und seine Schwestern mussten nie verschleiert vor die Tür gehen, die liberale Erziehung der Eltern hat alle vier Geschwister zu weltoffenen, lebensbejahenden Menschen gemacht.

Im November 2006 entschloss er sich dann, sein Hobby zum Beruf zu machen und wurde Profiboxer im Mittelgewicht. Nach fünf Kämpfen unter dem Banner der Hamburger Arena-Promotion folgte der nächste schwere Einschnitt. An einem Morgen im Dezember 2007 wurde er von einem Einsatzkommando der Polizei in seiner Wohnung festgenommen und als mutmaßlicher Drogenlieferant der albanischen Mafia in U-Haft verbracht. Fünf Monate saß er im Gefängnis, ehe sich herausstellte, dass ein Polizeidolmetscher Abhörprotokolle falsch übersetzt hatte. Rahimi wurde als unschuldig entlassen, der Fall ging bundesweit durch die Medien, er erstritt eine Haftentschädigung von rund 2900 Euro.

Er brauchte Zeit, um sich von dem erneuten Rückschlag zu erholen, doch seit rund einem Jahr lebt Rahimi nun so, wie ein Profisportler leben sollte. Er ernährt sich gesund, trainiert zehnmal pro Woche im Gym des kleinen Profistalls „Nordschmiede“ am Alten Teichweg, und er hat mit Owen Reece, der lange als Assistenztrainer beim Hamburger Universum-Profistall arbeitete, einen Coach, der sich nur um ihn kümmert. Einen Promoter hat er nicht, er vermarktet sich in Eigenregie.

14 Kämpfe hat er mittlerweile bestritten und allesamt gewonnen, er ist kein begnadetes Talent, aber einer, der hart arbeitet und sich durchbeißen kann. Und weil er seine Siege im Ring mit der afghanischen Fahne um den Hals feiert, ist er in seinem Geburtsland ein Volksheld.

Einer, der das einschätzen kann, ist Said-Mahruf Yussufi. Der 51-Jährige, der in Paderborn lebt, war von 1974 bis 1979 Mitglied der afghanischen Olympia-Boxstaffel. Die Sommerspiele 1980 in Moskau verpasste er, weil er sein Heimatland verlassen hatte. „Boxen ist nach Fußball die beliebteste Sportart in Afghanistan. Wir hatten einige Erfolge bei den Amateuren, aber keine bei den Profis. Deshalb wäre es eine riesengroße Sache für alle Afghanen, wenn Rahimi in Kabul kämpfen würde“, sagt er.

Über den Sender „Ariana TV“ sehen Afghanen in aller Welt Rahimis Kämpfe. Er gibt dort Interviews auf Dari, neben Paschtun die zweite Amtssprache Afghanistans, in der er sich bis heute mit seiner Mutter unterhält. In den Radio-Nachrichten wird über seine Kämpfe berichtet, im Internet rege darüber diskutiert, und viele Anhänger äußerten den Wunsch, eine Rückkehr in die Heimat, die er seit der Flucht nicht mehr besucht hat, zu organisieren. So kam Carsten Holst ins Spiel. Der Unternehmensberater und Nahrungsentwickler ist seit Jahren Beobachter der Profiboxszene, und weil er nach 15 Monaten an der Führungsakademie der Bundeswehr in Blankenese über militärische Kontakte verfügt, kam ihm die Idee, „nicht einfach nur nach Afghanistan zu fliegen und sich feiern zu lassen, sondern einen Kampf für den guten Zweck zu machen.“ Rahimis Reaktion überraschte ihn dann doch: Der Sportler willigte sofort ein.

Seitdem arbeiten beide mit Hochdruck daran, die nötigen Genehmigungen zu erhalten. Über die Organisation „Afghan Euro Sport“, die in Europa lebende afghanische Sportler unterstützt und für einen Eintritt in die Auswahlmannschaften ihrer Heimat zu werben versucht, nahm Zahir Aghbar Kontakt zu ihnen auf, der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees Afghanistans. „Wir haben von ihm das mündliche Einverständnis, dass der Kampf erwünscht ist“, sagt Nematullah Samani, in Düsseldorf ansässiger Sprecher von „Afghan Euro Sport“. Da jedoch auch das Innenministerium und der Geheimdienst konsultiert werden mussten, um die Sicherheitslage zu klären, liegt die schriftliche Genehmigung noch nicht vor. „Wir erwarten sie in den kommenden Tagen“, sagt Samani.

Mit dem Schriftstück wollen Holst und Rahimi dann nach Berlin reisen und Gespräche im Außen- und Verteidigungsministerium sowie mit der Bundeswehrspitze führen. Im Juli ist eine Reise nach Kabul geplant, um Details zu besprechen. „Wir brauchen die Unterstützung der hohen Politik, weil wir für die Sicherheit der Veranstaltung garantieren müssen“, sagt Holst. Natürlich hofft er auch auf finanzielle Unterstützung der Regierungen oder von Unternehmen beider Länder, um das Projekt realisieren zu können. Immerhin soll es nicht nur einen Boxkampf geben. Sie träumen davon, Udo Lindenberg, die US-Sängerin Pink und den einheimischen Popstar Farhad Darya zu mobilisieren. „Ich weiß, dass ich wie ein Wahnsinniger klinge, aber so ein Song wie ‚We are the world’, den Michael Jackson für Afrika gesungen hat, von Udo und Farhad für Afghanistan, das wäre der Hammer!“

Er selbst will auf eine Gage verzichten, aber nicht mit leeren Händen nach Kabul kommen. „Ich will einen Titel verteidigen, wenn ich dort kämpfe“, sagt er. Am 17. Juni bestreitet er deshalb in Kiel einen Acht-Runden-Kampf, Ende August soll es dann über die für Titelkämpfe übliche Distanz von zwölf Runden um einen Titel des Weltverbandes IBO gehen. Den Gegner für den Showdown in Kabul sechs Wochen danach will er jedoch schon im Sommer suchen. Am liebsten wäre ihm ein US-Amerikaner. „Das wäre das beste Zeichen der Völkerverständigung: ein deutscher Afghane in Kabul gegen einen Amerikaner, und wir kämpfen im Zeichen der Freiheit“, sagt er. Er ist in seiner Euphorie jetzt kaum noch zu bändigen.

Seine Frau Mariam, eine ehemalige Miss Afghanistan, mit der er in St.Georg lebt, seine Eltern, seine Geschwister und Freunde, sie alle stehen hinter ihm und drücken die Daumen, dass sich Hamid seinen Traum erfüllen kann. Den Traum, im vom Krieg geheilten Afghanistan ein Boxgym zu betreiben und Kinder auf ein friedliches Zusammenleben vorzubereiten. Er weiß selbst, dass es ein Traum ist, den Afghanen in ähnlicher Form seit Generationen träumen. Aber für einen, der an Drachen glaubt und wie einer kämpfen kann, könnte er tatsächlich in Erfüllung gehen.