Der Star der Wrestlingszene kämpft am Sonnabend in der Sporthalle Hamburg gegen den Österreicher Chris Raaber um den EM-Titel.

Hamburg. „Schmerz ist dein bester Freund“ steht auf einem T-Shirt, das Karsten Kretschmer an der Wand in seiner Kampfsportschule aufgehängt hat. Es klingt wie ein Mantra, und man muss Kretschmers Geschichte kennen, um zu verstehen, dass es kein Spaß sein soll, sondern ein Lebensmotto, das dort rot-weiß auf schwarz aufgedruckt ist. Im Leben des Karsten Kretschmer und derjenigen, die es mit ihm teilen, geht es jeden Tag darum, Schmerzgrenzen zu überschreiten. „Es vergeht kein Tag, an dem mir nicht irgendein Teil meines Körpers weh tut“, sagt der 35-Jährige, und um ein solches Leben auszuhalten, muss man sich den ständigen Begleiter wohl zum besten Freund machen.

Nun darf man nicht den Fehler machen und denken, dass Kretschmer mit seinem Leben unglücklich wäre, im Gegenteil. Er ist Profi-Wrestler. Rund 500 Kämpfe hat er in seiner seit 1994 andauernden Karriere bestritten, er ist Weltmeister der Nordish Wrestling Championship (NCW), und an diesem Sonnabend kämpft er in der Sporthalle Hamburg gegen den Österreicher Chris Raaber, 28, um die Europameisterschaft der Mad Wrestling Association (MWA), die ihren Sitz in Lübeck hat. In Wrestlerkreisen ist der 182 cm große und 103 kg schwere Athlet ein Star, doch das ist nicht, worum es ihm geht. „Ich will ein Vorbild sein“, sagt Kretschmer, „und meinen Teil dazu beitragen, dass sich unsere Kinder und Jugendlichen wieder mehr bewegen.“

Um dieser Rolle gerecht zu werden, hat Kretschmer im Jahr 2004 in der Steilshooper Straße in Barmbek seinen Nordisch Fight Club (NFC) eröffnet, eine Kampfsportschule mit dem Fokus auf Wrestling, der Sportart, die ihn selbst als Achtjährigen in ihren Bann zog. Es ist bis heute die einzige Schule in Norddeutschland, die Wrestling lehrt, und sogar die einzige im gesamten Bundesgebiet, in der Kinder ab acht Jahren den in den USA höchst populären Sport erlernen können. Rund 160 Mitglieder hat der NFC, Kretschmer ist Leiter und Trainer zugleich. Er hat auch einen Coach, der Thai-, Kick- und olympisches Boxen lehrt, weil er selber „nie Gefallen an Tritten und Schlägen“ gefunden hat. Ringen und Wrestling, das ist sein Leben, und dafür versucht er die Jugendlichen, die zu ihm kommen, zu begeistern.

Kretschmer ist einer, der den richtigen Ton trifft im Umgang mit seinen Sportlern. Natürlich weiß er um sein beeindruckendes Äußeres, doch seine wichtigste Waffe ist das Wort. Als kürzlich ein Farbiger und ein Weißer, zehn und elf Jahre alt, im Training aneinandergerieten und der Farbige den Weißen mit den Worten „Du Sohn von Hitler“ beleidigte, rief Kretschmer die gesamte Gruppe zusammen. „Dann haben wir gemeinsam über Werte diskutiert, über Dinge wie Ausgrenzung und Diskriminierung. Am Ende haben die beiden Streithähne wieder gemeinsam trainiert“, sagt er.

Respekt ist das Zauberwort, das er gern benutzt. „Wenn du Respekt willst, musst du auch andere mit Respekt behandeln“, das ist ein weiterer seiner Leitsprüche. Das mag für viele Menschen selbstverständlich sein, für viele Jugendliche aus Problemvierteln ist es neu. „Durch den Sport lernen diese Kids, sich an Regeln zu halten und Disziplin zu wahren“, sagt Kretschmer. Er sieht sich als Mittler an, der ein Umfeld schaffen will, in dem sich seine Sportler wohl fühlen. An Weihnachten plant er ein großes Fest, um denen, die kein intaktes Zuhause haben, „wenigstens ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern“. Finanzielle Unterstützung von der Stadt gibt es nicht, immerhin soll er aber in diesem Jahr einen größeren Raum erhalten, um sein Angebot auszuweiten.

Einen guten Profi-Wrestler zeichnet neben Muskelkraft und Technik vor allem aus, Schauspieltalent zu besitzen und die Neigung, seinen Körper gern zu zeigen. „Exhibitionismus light“, so sagt es Kretschmer. Er hat schon als Kind gern die Kunden nachgemacht, die am Marktstand seiner Eltern kauften, er war ein halbes Jahr in Hamburg an der Schule für Schauspiel, und seit ein paar Monaten leistet er sich sogar einen Privattrainer. Kretschmer spielte in der Komödie „Underdogs“ mit, derzeit bewirbt er sich um eine Rolle in einer japanischen Science-Fiction-Produktion.

In seiner Anfangszeit spielte er sogar im Ring eine Rolle, er nannte sich „Mr.Natural Wonder“ und versuchte sich mit einem aggressiven Stil zu behaupten. Damit gewann er Kämpfe, aber nicht die Herzen der Fans. Jetzt heißt er „Hamburger Jung“, spielt nur noch sich selbst, und er fährt gut damit. Dennoch baut er mit dem Schauspielunterricht vor für den Tag, an dem sein Körper ihm sagt, dass er den besten Freund nicht mehr akzeptieren will. Zehn Jahre soll das nach Kretschmers Vorstellung allerdings noch dauern.

Bis dahin arbeitet er hart daran, seinen Nachfolger zu finden. Mit Kenny „The Kid“ Laube, 17, der am Sonnabend im Vorprogramm seinen ersten großen Kampf bestreitet, hat er einen Hoffnungsträger am Start, den er selbst trainiert und der auch schon eigenverantwortlich als Co-Trainer mithilft, noch mehr Kinder vom Wrestling zu faszinieren. Kretschmer muss oft Eltern beruhigen, die befürchten, ihr Kind werde zum brutalen Schläger ausgebildet. „Wer bei uns ist, schlägt sich nicht auf der Straße“, sagt er dann. Er verschweigt nicht die hohe Verletzungsgefahr beim Profi-Wrestling, „aber für Kinder ist Fußball viel gefährlicher als Ringen“. Und dass ein Körper wie der seine ohne Dopingmittel zu erreichen ist, kann er auch glaubwürdig versichern, weil er Mitte 20 vier Wochen lang Pillen schluckte, bis ihm so übel war, dass er sie wegwarf.

Seine einzige Sucht, sagt er, ist sein Sport. Heilung ist nicht in Sicht. Und das ist auch gut so.