An Waldorfschulen gestalten Schüler:innen ihre Schulbücher in den ersten Klassen selbst. Sie lernen, vernetzt und kreativ zu denken, gelten als angstfrei und resilient. Mit diesen Eigenschaften scheinen Waldorfschüer:innen für die komplexen Herausforderungen der Zukunft besonders gut gerüstet zu sein. Über die Grundlagen der Waldorfpädagogik sprach die Funke Mediengruppe mit der Tutorin und Eurythmistin Astrid Marcuse und Patrik Jacob, dem Geschäftsführer der Rudolf-Steiner-Schule Harburg.

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Frau Marcuse, Herr Jacob: Sie werden sicher häufig gefragt, was das Besondere am Schulkonzept von Rudolf-Steiner-Schulen ist. Was antworten Sie da?

Astrid Marcuse: Der Kern der Waldorfpädagogik ist, dass wir den Menschen in seiner Ganzheit erfassen und ansprechen. Wenn wir Wissen vermitteln, geht es gleichzeitig über Herz, Hand und Kopf – und zwar durch Kunst, Handwerk und natürlich den theoretischen Unterricht.

Patrik Jacob: Bei uns erfahren Kinder die reale Welt in Etappen. Sie lernen entsprechend ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung, also das, was ihrer jeweiligen Altersstufe entspricht.

Die Wissensvermittlung findet ja zum Teil in anderer Form statt als auf der staatlichen Schule, nämlich als Epochenunterricht. Was genau kann ich mir darunter vorstellen?

Astrid Marcuse: Im Epochenunterricht setzen sich die Schüler:innen über einen Zeitraum von mehreren Wochen täglich zwei Stunden intensiv mit einem bestimmten Wissensgebiet aus dem schulischen Fächerkanon auseinander. Das kann ein Bereich der Mathematik sein, Geschichte, Biologie oder Physik. Dieser zweistündige Lernblock, genannt Hauptunterricht, folgt in den jüngeren Klassen einem festgelegten Ablauf. Er beginnt mit einem kreativen Auftakt wie der Rezitation eines Gedichts oder Kopfrechnen, danach werden Lerninhalte des Vortags wiederholt. Das festigt das Gelernte und bereitet auf die nächsten Lerninhalte vor, die sie in den nächsten Schultag mitnehmen. So schließt sich der Kreis des Lernens täglich über mehrere Wochen hinweg und führt zu einer tiefen Durchdringung der jeweiligen Materie.

Patrik Jacob: Wichtig ist: Die Kinder reflektieren das bisher Gelernte, bevor sie ihr Wissen erweitern. Das erleichtert den Prozess, Neues zu begreifen und durch Üben zu verinnerlichen. Unterstützt wird diese Lernmethode dadurch, dass in den unteren Klassen keine Schulbücher verwendet werden, sondern die Schüler:innen so genannte Epochenhefte führen. Darin halten sie ihre Arbeitsergebnisse in Form eigener Texte und Zeichnungen fest. Sie kreieren damit im Grunde genommen ihre eigenen Schulbücher und Nachschlagewerke.

Waldorfschüler:innen gelten als besonders kreativ und selbstbewusst. Woran liegt das?

Astrid Marcuse: Durch den bereits erwähnten Dreiklang von Herz, Kopf und Hand, der den Unterricht über die gesamte Schulzeit hinweg bestimmt. Bei uns lernen die Kinder ja von klein auf, in Kontexten zu denken. Sie verstehen kausale Zusammenhänge auf kognitiver wie emotionaler und haptischer Ebene, weil diese immer gleichberechtigt im Lernprozess integriert sind.

Haben Sie hier ein Beispiel?

Astrid Marcuse: Das zeigt sich im Gartenbauunterricht ab der dritten (wenn man den Ackerbau dazu nimmt, sonst 5. Klasse) Klasse. Die Kinder arbeiten mit der Natur, legen Beete an, bepflanzen sie und ernten am Ende, was sie gesät haben. Im späteren Biologieunterricht können sie die theoretischen Inhalte mit ihren Erfahrungen der früheren Jahre besser verknüpfen.

Patrik Jacob: In der Feldmess-Epoche der 10. Klasse lernen die Schüler:innen angewandte Mathematik, wenn sie Landstriche mit Hilfe des Theodoliten (Winkelmessinstrument in der Landvermessung, d.Red.) Zenit- oder Vertikalwinkel vermessen und die Ergebnisse anschließend in eine Zeichnung übertragen. Auch hier zeigt sich wieder: Die Themen der Epochen sind auf das Alter der Schüler abgestimmt und korrespondieren mit dem, was sich an innerer Entwicklung abspielt.

Stichwort Innere Entwicklung: Sie haben ja ein eigenes Medienkonzept entwickelt, das die Benutzung des Smartphone im Unterricht erst in höheren Klassen vorsieht. Ist das nicht unrealistisch?

Astrid Marcuse: Nein, für uns ist die echte Erfahrung der Welt die Grundlage des Lernens. Die Kinder sollten zunächst ihre eigenen, konkreten Erfahrungen mit dem Leben machen, bevor sie in die abstrakte mediale Welt einsteigen. Wir besprechen in der Medienkunde der 6. Klasse die Hilfen und Gefahren des Internets, klären auf und setzen uns in bewusster Art und Weise gemeinsam mit den Fragen der Schüler:innen auseinander. Doch bis dahin wünschen wir uns, dass ihre Kreativität und Vorstellungskraft durch das gesprochenen Wort angeregt wird. Unsere in Waldorfpädagogik ausgebildeten Lehrkräfte nutzen begleitend gerne die klassische Tafel und Kreide, um z.B. durch schichtweisen Aufbau von Tafelbildern (anschaulichen Grafiken) die Hirntätigkeit stärker anzuregen , als z.B. bei Nutzung einer digitalen Tafel.

Wird dieser späte Zugang zu den Neuen Medien von allen Eltern mitgetragen?

Patrik Jacob: Wir versuchen zumindest ein Bewusstsein bei den Eltern über diesen Zusammenhang zu erreichen. Auch wünschen wir uns eine Erziehungspartnerschaft mit den Eltern, die meistens sehr gut funktioniert. Sie tragen diesen Ansatz mehrheitlich mit.

Astrid Marcuse: Wir beobachten, dass durch die die Nutzung von Smartphones die Aufmerksamkeitsspanne schon bei kleinen Kindern sinkt. Noch vor einigen Jahren konnten die Kinder den Konzentrationsfaden über einen weitaus längeren Zeitraum halten. Auch dadurch fühlen wir uns in unserem Ansatz bestätigt...

Waldorfschulen sind ja auch bekannt für ihre so genannten Monatsfeiern. Was hat es damit auf sich?

Patrik Jacob: Sie sind so etwas wie Einblicke in den Schulalltag und den Entwicklungsstand der jeweiligen Jahrgänge. Hier zeigen Klassen, meist im ganzen Verbund, Erlerntes aus dem Unterricht. Dies können musikalische, eurythmische oder tänzerische Aufführungen sein, sowie Rezitationen in verschiedenen Sprachen. Die Feiern finden vor der Schulgemeinschaft und noch einmal öffentlich vor den Eltern und externen Interessenten statt.

Welchen pädagogischen Sinn haben die Feiern für die Schüler:innen?

Die Klassen zeigen sich untereinander und dem Publikum, was sie bis zum Zeitpunkt der Aufführung gelernt haben. Dabei erinnern sich die Großen, was sie früher gemacht haben, die Kleinen erhalten einen Vorblick. Diese gegenseitige Wahrnehmung hat einen vernetzenden Effekt im Lernen und im Sozialen als Schulgemeinschaft.

Dabei lernen die Kinder von klein auf, sich vor großem Publikum zu präsentieren. Auch in der Oberstufe oder in der Abschlussarbeit nach der 11. Klasse legen wir viel Wert auf mündliche Beiträge. So lernen Kinder und Jugendliche, angstfrei und selbstsicher vor anderen zu sprechen. In Verbindung mit ihrer Fähigkeit zu komplexem, vernetztem Denken sind sie in der Lage, auch mit schwierigen Situationen fertig zu werden. Kurz: Sie erwerben Resilienz und denken lösungsorientiert. Beides sind im Prinzip die wichtigsten Fähigkeiten, um in dieser zunehmend komplexen Gegenwart erfolgreich bestehen zu können.

Zu den sogenannten Monatsfeiern gibt es auch Theateraufführungen, die in der 8. und 12. Klasse von der ganzen Klasse aufgeführt werden.

Frau Marcuse, Eurythmie, die Sie ja eben im Kontext zu den Monatsfeiern erwähnt haben, ist ein Kernbestandteil der Waldorfpädagogik. Können Sie kurz erläutern, worum es dabei geht?

Astrid Marcuse: In der Tat ist die Eurythmie eine Bewegungsform, die auf einzigartige Weise Sprache und Musik in körperliche Bewegung übersetzt. Zu Beginn steht ein Text oder eine Musik die zunächst kennengelernt, betrachtet, gefühlt und anschließend in Bewegung umgesetzt wird. Die Eurythmie hat ein eigenes Zeichensystem, wodurch Laute, Töne und Empfindungen ausgedrückt werden können. Eine Choreografie im Raum kann sowohl einzeln, als auch in der Gruppe ausgeführt werden. Hier werden sowohl das soziale Miteinander, als auch die Ausdrucksfähigkeit jedes Enzelnen geübt. Außerdem begleitet ein Pianist oder eine Pianistin den Unterricht und arbeitet gemeinsam mit den Schülern und Schülerinnen an den jeweiligen Stücken oder Improvisationen.

Herr Jacob, welche Schulabschlüsse sind an der Waldorfschule möglich?

Patrik Jacob: Wir sind eine staatliche anerkannte Gesamtschule, unterrichten also bis zur 13. Klasse. Der Erste Allgemeine Schulabschluss (ESA, vormals Hauptschulabschluss, d. Red.) wird bei uns am Ende der 10. Klasse erworben. Den Mittleren Schulabschluss (MSA, früher Realschulabschluss, d.Red.) erwerben Schüler:innen Ende der 11. Klasse. Nach der Versetzung in die 12. Klasse können der schulische Teil der Fachhochschulreife und das Abitur erreicht werden. In der Studienstufe ab Klasse 12 gelten dann die Regelungen für das Abitur und der Unterricht unterscheidet sich inhaltlich kaum mehr von anderen Gesamtschulen in Hamburg. Auch wenn sich der Weg zu den Abschlüssen von anderen Schulen unterscheidet, entsprechen alle Abschlüsse bei uns den staatlichen Vorgaben und sind genauso anerkannt.

Zum Schluss noch zur Erfolgsstatistik: Wie viele Schüler:innen machen ihr Abitur auf der Rudolf-Steiner-Schule Harburg? Gibt es hier eine Vergleichs-Quote zu staatlichen Abschlüssen?

Wenn wir von einer ersten Klasse ausgehen, erreichen ungefähr zwei Drittel der Schüler:innen das Abitur. Diese Abschlussquote und der Noten-Durchschnitt unserer Abiturient:innen liegt dabei regelmäßig hamburgweit im oberen Bereich. Wichtiger für den späteren Erfolg der individuellen Lebenswentwürfe sind für uns aber die Fähigkeit das in der Schule erlernte mit der Praxis in der Arbeitswelt verknüpfen zu können und mit Freude weiter zu lernen. Dass wir diesen Praxisbezug erfolgreich vermitteln, zeigt uns auch das häufige Feedback von Handwerksmeistern, die regelmäßig davon berichten, wie postiv sich die Aufnahmefähigkeit und Lernkurve unserer Schüler:innen von denen anderer Schulformen abhebt. Daher haben auch Schüler:innen die unserer Schule mit ESA und MSA verlassen eine hervorragende Perspektive.

Letzte Frage: Das didaktische System der Rudolf-Steiner-Schulen unterscheidet sich ja in einigen Punkten grundsätzlich von denen staatlicher Schulen. Ist ein Schulwechsel von einer staatlichen Schule auf die Waldorfschule überhaupt möglich?

Astrid Marcuse: Ja, sehr gut sogar, wie unsere bisherigen Erfahrungswerte zeigen. Selbst in höheren Klassenstufen gelingt die Anpassung erstaunlich schnell. Wir sind in jedem Fall offen für Wechselwillige und bieten ihnen alle Unterstützung, die sie für eine erfolgreiche Integration benötigen.

 

 

Kontakt

 

 

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