Im großen Experten-Interview mit dem Hamburger Abendblatt spricht Prof. Lenarz über das Cochlea-Implantat (CI), das den Markt der Hörgeräte revolutioniert.

Die HNO-Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover hat sich mit dem 2003 gegründeten Deutschen HörZentrum Hannover (DHZ) in den letzten drei bis vier Jahrzehnten weltweit einen Namen gemacht. Dafür ist vor allem eine Hörprothese, das sogenannte Cochlea-Implantat (CI), verantwortlich. Was genau kann man sich darunter vorstellen?

Prof. Lenarz: Grundsätzlich handelt es sich bei einem Cochlea-Implantat (CI) um den Ersatz eines Sinnesorgans, nämlich der Haarzellen in der Hörschnecke. Sind diese weitgehend funktionslos, hat der Betroffene trotz seiner Hörgeräte kein ausreichendes Sprachverstehen, weil eben die Haarzellen den Hörnerven nicht ausreichend stimulieren. Mit einem Cochlea-Implantat wird ein Elektrodenkabel in die Hörschnecke eingeführt, um die Hörnervenachse gewunden und von außen gesteuert. Das System übernimmt also die Funktion der ausgefallenen Hörsinneszellen und wandelt Schall in elektrische Pulse um, die der Hörnerv an das Gehirn zur Entschlüsselung und Interpretation leitet. So kann Sprache (wieder) verstanden werden.

Wie wichtig das Hören für die gesellschaftliche Teilhabe ist, spüren die meisten erst, wenn sie plötzlich ertauben oder die Hörfähigkeit schleichend nachlässt. Wie genau kann ein CI hier helfen bzw. wie funktioniert ein Cochlea-Implantat?

Prof. Lenarz.
Prof. Lenarz. © DHZ

Prof. Lenarz: In unserem Körper ist alles auf Regeneration ausgelegt: Zerkratzte Haut erholt sich, gebrochene Knochen heilen, abgeschnittene Haare wachsen nach - nur in unserem Innenohr funktioniert das nicht. Sind die Haarzellen dort einmal zerstört, gibt es keine Heilung. Die Folge: Schwerhörigkeit oder sogar Gehörlosigkeit. Aber diese ist technisch zu überwinden – dank des Cochlea-Implantats.

Das CI besteht aus zwei Teilen: einer Elektrode in der Gehörschnecke sowie einem außen hinter dem Ohr getragenen Sprachprozessor, der über eine Spule, die mit Hilfe eines Magneten am Kopf befestigt wird, die Informationen zum Implantat überträgt. Vom Implantat gelangen die Informationen dann über den Hörnerv an das Gehirn, und der CI-Träger kann hören.

Für wen eignet sich ein solches Implantat?

Prof. Lenarz: Für Kinder und Erwachsene mit hochgradiger Innenohrschwerhörigkeit ist das Cochlea-Implantat die einzige Möglichkeit, (wieder) Sprache zu verstehen und damit gesellschaftliche Teilhabe und alle Bildungschancen zu erfahren. Geeignet ist diese Hörrehabilitation für Menschen jeden Alters mit einem funktionierenden Hörnerv, der wird nämlich gebraucht, um die akustischen Signale als Nervenimpuls an das Gehirn zu senden. Unser jüngstes Patientenkind war 5 Monate alt, der älteste Patient 91 Jahre – daran sehen Sie die Altersspanne, aber auch die Bedeutung von Hören, denn vom ersten bis zum letzten Moment unseres Lebens wollen wir mit unseren Mitmenschen, der Familie oder den Pflegenden kommunizieren.

Wie unterscheidet sich ein CI von anderen Hörhilfen? Oder: Was kann ein CI, was andere Hörhilfen nicht können?

Prof. Lenarz: Schwerhörigkeit ist eine Volkskrankheit, für die es hervorragende Therapiemöglichkeiten gibt. Während vor 15 Jahren die Auswahl nur zwischen einem konventionellen Hörgerät und einem Cochlea-Implantat bestand, deckt die Hörsystemversorgung mit teil- und vollimplantierbaren Hörgeräten, Hybrid-Geräten oder auch Hirnhörimplantaten mittlerweile die vollständige Bandbreite an Hörstörungen ab. Das Cochlea-Implantat ist dabei das einzige System, das das defekte Innenohr überbrückt, benötigt aber einen funktionierenden Hörnerv.

Die Indikationsstellung erfolgt nach einer ausführlichen und sehr aufwändigen audiologischen, HNO-fachärztlichen und auch radiologisch aufwändigen Diagnostik. Die audiologische Diagnostik muss unter anderem auch einen Funktionstest des Hörnerven beinhalten, der bei Kindern, gehörlos geboren, fast unmöglich durchzuführen ist. Somit hat die radiologische Diagnostik eine immense Bedeutung. Mit der auch an der MHH weiterentwickelten neuroradiologischen Qualität der Bildgebung ist es mittlerweile möglich, das Hörnervenbündel und das Eintauchen in die Hörschneckenachse in einer Kombination aus MRT und CT darzustellen.

Welche (chirurgische) Expertise kann die HNO-Klinik der MHH vorweisen?

Prof. Lenarz: Unsere HNO-Klinik hier an der Medizinischen Hochschule Hannover hat 1984 in einer Pionierleistung mit der ersten Cochlea-Implantation begonnen, innerhalb weniger Jahre hat das System aufgrund der hervorragenden Ergebnisse bei uns seinen Siegeszug um die Welt angetreten, so dass heute das CI bei einer Innenohrschwerhörigkeit, die nicht mehr mit einem Hörgerät auszugleichen ist, der Goldstandard ist. Unsere Klinik hat inzwischen mehr als 11.000 Menschen damit versorgt, wir haben eine weltweit herausragende chirurgische Expertise, weil wir mit einem kleinen engagierten Team aus Chirurgen diese hochanspruchsvolle Mikrochirurgie durchführen und schon jede denkbare Form eines Innenohres gesehen haben.

Die Fallzahl spielt also eine große Rolle … Wie viele entsprechende Operationen wurden bereits in der HNO-Klinik durchgeführt?

IMGP3751.JPG
© DHZ

Prof. Lenarz: Ja, Fallzahlen spielen eine große Rolle. Das sollte auch jeder Betroffene, jede Betroffene bei der Wahl der implantierenden Klinik im Blick haben. Tägliche Implantationen mit den verschiedenen Elektroden sind notwendig, um als chirurgisch-technisches Team ausreichend Erfahrung für die notwendige Qualität vorzuweisen. Auf der Webseite sollte jede implantierende Klinik außerdem ihren Qualitätsbericht zum Nachlesen zur Verfügung stellen.

In Hannover an der MHH versorgen wird jährlich mehr als 500 Menschen mit einem CI und begleiten sie ein Leben lang in der Welt des Hörens.

Ihr Ziel ist eine für jede:n präzise Diagnose und maßgeschneiderte Therapie. Wie gewährleisten Sie das und wie läuft eine Behandlung bei Ihnen konkret ab?

Prof. Lenarz: Grundlage jeder Therapieempfehlung in der HNO-Klinik und dem DHZ ist eine vollständige audiologische Diagnostik. Häufig ist der Verlauf der Hörstörung von Bedeutung - insofern sind wir für Vorbefunde der HNO-ärztlichen Kollegen immer dankbar.

Zunächst wird das tonale Gehör geprüft nach Grad des Hörverlustes (in dB gemessen, nicht in Prozent) in Abhängigkeit von den betroffenen Frequenzen, den hohen und tiefen Tönen. Daraufhin erfolgt eine Sprachaudiometrie mit und ohne Hörgeräte, je nachdem wie die Versorgung ist. Um die tatsächlich realitätsnahe Einschränkung der Hörminderung abschätzen zu können, benötigen wir noch Messwerte in Ruhe und im Störgeräusch.

Wichtig sind vor allem auch objektive Testverfahren, in denen wir die Beurteilung der Haarzellfunktion im Innenohr sowie eine Antwort und Schwellenbestimmung vom Hörnerv direkt erhalten. Selbst dann, wenn der Gehörgang nicht angelegt ist, können wir über die Weiterleitung des Schalls via Schädelknochen sehr genau die Funktion der übrigen Hörorgane messen.

Diese audiologische Differentialdiagnostik führen wir in einer ersten, ambulanten, eintägigen Untersuchung durch. Hier werden die grundsätzlichen Empfehlungen bezüglich der möglichen Hörsysteme, insbesondere der Cochlea-Implantate ausgesprochen.

Liegt eine Betroffenheit beider Seiten vor, wird die Empfehlung immer darauf zielen, ein symmetrisches Hören wiederherzustellen, um auch ein Richtungsgehör als Grundlage eines guten Sprachverstehen im Geräusch zu ermöglichen.

Am Ende der Voruntersuchung findet dann das Abschlussgespräch mit mir oder meinem Vertreter statt. Es werden dort alle vorhandenen Befunde zusammengefasst und eine Gesamtbeurteilung abgegeben. Mit den Betroffenen zusammen wird dabei eine Empfehlung für die weitere Versorgung wie etwa eine Cochlea-Implantation ausgesprochen. Die Patienten und Patientinnen haben dann alle notwenigen Informationen an der Hand, um eine Entscheidung zu treffen. Dabei bieten wir einen besonderen Service: Wir sind die einzige Klinik, die alle drei CI-Hersteller mit eigenen Service-Lounges bei uns im DHZ vor Ort haben. Man kann sich also direkt bei allen Herstellern in Ruhe umsehen und sich zusätzlich beraten lassen.

Unterscheidet sich die Behandlung bei Erwachsenen und Kindern?

Prof. Lenarz: Die Erwachsenen können nach der Operation und der fünftägigen Erstanpassung wieder arbeiten gehen. Kinder müssen früh versorgt werden, damit sie eine Chance auf die Hörbahnreifung haben, um so die Regelschule zu besuchen. Das ist bei den meisten Kindern unter dieser Bedingung möglich.

Sie werben außerdem mit einer sogenannten „Remote Care“. Was bedeutet das für Patient:innen?

Prof. Lenarz: Die Zahl der mit einem Cochlea-Implantat jährlich versorgten Erwachsenen liegt in Deutschland bei rund 2.000 – mit weiterhin steigender Tendenz. Allein an der Medizinischen Hochschule in Hannover werden pro Jahr mehr als 500 hochgradig schwerhörige bzw. ertaubte Patienten mit einem Cochlea-Implantat versorgt. Viele von ihnen möchten allerdings gern an ihren Heimatorten die Nachsorge haben - ohne auf die Kompetenz der versorgenden Klinik zu verzichten. So hat es unsere HNO-Klinik ermöglicht, dass die Patienten heimatnah bei einem niedergelassenen HNO-Arzt eine streng qualitätsgesicherte Cochlea-Implantat-Anpassung via Fernanpassung durchführen können. Die HNO-Klinik und das Deutsche HörZentrum Hannover der MHH sind weltweit führend auf diesem Gebiet, denn ein Cochlea-Implantat darf nur durch ausgewiesene und zertifizierte Fachkräfte programmiert werden (nach Medizinproduktegesetz), auch müssen die hochkomplexen Geräte regelmäßig überprüft und eingestellt werden. Für die Fernanpassung haben wir ein Kompetenznetzwerk mit vielen Hörakustikern aufgebaut. Und das Netzwerk wächst stetig weiter.

Lassen Sie uns abschließend noch einen Blick in die Zukunft werfen: Welche Entwicklungen erwarten Sie im Segment der Hörsysteme?

Prof. Lenarz: Sicherlich wird die Verwendung von Künstlicher Intelligenz bei den Hörsystemen deutlich voranschreiten. Gleichzeitig arbeiten wir aber auch an einer Regeneration der Haarzellen, so dass vielleicht in einigen Jahren keine apparative Versorgung mehr notwendig sein wird, weil uns eine ursächliche Therapie zur Verfügung steht. Im Moment können wir nur sehr wenige Formen von Schwerhörigkeit heilen, die meisten lassen sich mittels Apparaten tagsüber ausgleichen. Aber abends, wenn die Betroffenen zu Bett gehen und die Systeme ablegen, sind sie ja nach wie vor schwerhörig. Das wäre sicher ein großer Schritt in der Medizin, Hörverlust tatsächlich einmal zu heilen.

Warum ist es so wichtig, sich bei einem Hörsturz an professionelle Anlaufstellen wie das DHZ zu wenden?

Prof. Lenarz: Der Hörsturz ist vergleichbar mit einem Infarkt im Innenohr, der durch eine Mangelversorgung in diesem kleinen Organ entsteht. Denn unser Gehör arbeitet Tag und Nacht, rund um die Uhr und verbraucht dabei viel Energie. Kommt es dann zu dieser plötzlichen Funktionsminderung, muss schnell gehandelt werden, um einen dauerhaften Hörschaden nach Möglichkeit zu verhindern.

Schaubild eines Cochlea-Implantats
Schaubild eines Cochlea-Implantats © HNO der MHH

So erreichen Sie uns:

 

 

Kontakt

 

 

Deutsches HörZentrum Hannover

Karl-Wiechert-Allee 3

30625 Hannover

Tel.: 0511/532-6603

dhz.info@mh-hannover.de

www.dhz.clinic

Schwerpunkte

 

 

Öffnungszeiten

 

Hörzentrum

 

 

Montag bis Donnerstag:

07:30 - 16:00 Uhr

Implantierbare Hörsysteme

Cochlea-Implantate

 

Freitag:

07:30 - 14:30 Uhr