Die Sansibar ist mehr als nur ein Schicki-Treff. Das musste auch Bestseller-Autorin Dora Heldt einsehen. Sie war mit ihrem Vater dort – in Deutschlands bekanntester Holzhütte.

Sylter meiden Szenelokale. Vielleicht nicht alle Sylter, aber meine Eltern. Szenelokale sind diejenigen, vor denen man sich nicht traut zu parken, aus lauter Angst, dass die eigene kleine silberne A-Klasse von den grimmigen Cayennes und den arroganten Touaregs einfach platt gedrückt wird, falls man das Auto überhaupt wiederfindet. Es sind die Lokale, wo blonde Schauspielerinnen mit engen Jeans und kurzen Lederjacken neben bekannten Moderatoren in blauem Polohemd und rosa Kaschmirpullover stehen. Wo jeder jeden kennt und wo man als Nichtpromi bestenfalls einen Stehplatz am Tresen bekommt.

Sylter gehen in solche Lokale nicht hinein. Nie. Weil diese Gäste so tun, als gehöre die Insel ihnen. Das stimmt einfach nicht, sie sind Gäste. Und die Sylter wollen keinen Streit. Deshalb werden bestimmte Lokale einfach gemieden.

Umso überraschter war ich, als mein Vater sich ausdrücklich die „Sansibar“ wünschte. Ich wollte ihn zum Mittagessen einladen, er sollte das Restaurant bestimmen. Und er sagte: „Sansibar.“

„Papa, du gehst doch nie in Promilokale.“

„Stimmt.“

„Die Sansibar ist eines.“

„Nicht nur. Ich denke, ich kann es mir aussuchen? Also: Sansibar.“

Die Sansibar liegt am gleichnamigen Strandabschnitt zwischen Rantum und Hörnum im Sylter Süden, der Strandabschnitt war schon vorher da und hat dem Lokal seinen Namen gegeben. Vom Parkplatz aus läuft man zehn Minuten über den Dünenweg bis zum Lokal. Schon auf dem Hinweg überholen wir ganze Gruppen von durchgestylten Gästen, die Damen haben größere Schwierigkeiten, mit ihren Absätzen den Kiesweg zu bewältigen, deshalb sind wir schneller. Mein Vater lächelt, und endlich taucht das berühmte Strandlokal vor uns auf. Beim ersten Anblick klingt selbst das Wort „Strandlokal“ übertrieben. Es ist eine Holzhütte. Zwar eine große, aber trotzdem eine Holzhütte, wenn auch mit einer schönen Terrasse davor. Eigentlich ähnelt es mehr einer Skihütte, vermutlich lächelt mein Vater aus diesem Grund, eins der wenigen Dinge, die er auf Sylt vermisst, sind die Berge und das Skifahren. Man kann nicht alles haben, hier sieht es wenigstens ähnlich aus.

Wir finden tatsächlich einen freien Tisch auf der Terrasse, haben die Sonne im Gesicht und freien Blick auf den Dünenweg zum Meer. Obwohl fast alle Tische besetzt sind, dauert es keine fünf Minuten, bis uns eine sehr hübsche und sehr gut gelaunte Bedienung mit einem fröhlichen „Moin, alles gut?“ die Speisekarte reicht und dabei wie beiläufig den Tisch abwischt. „Schon was zu trinken?“

Mein Vater lächelt weiter, bestellt genauso fröhlich ein Pils und sieht ihr begeistert hinterher. „Charmant, nicht?“

Ich stimme zu und vertiefe mich in die Speisekarte. Mein Vater setzt eine Sonnenbrille auf und erklärt: „Die Bedienungen sind alle so freundlich. Hier hat sich einmal eine junge Frau beworben. Sie hat gefragt, was sie für Vorraussetzungen braucht, da hat Herbert Seckler gesagt: ‚Gute Laune.‘ Das merkt man. Sehr gutes Personal.“ Irritiert sehe ich meinen Vater an. „Herbert Seckler?“

„Der Inhaber.“ Ungläubig schüttelt er den Kopf.

„Jeder kennt Herbert Seckler. Das ist eine tolle Karte, oder? Kannst jedes Gericht bestellen, es ist alles gut.“

ich habe gerade einmal die Hälfte gelesen, schwanke schon zwischen Angeldorsch im Gemüsesud gegart mit Senfsauce und Salzkartoffeln oder der Knob- lauchbutter-Pfanne von Edelfischen. Mein Vater schiebt die Karte zur Seite. „Der Seckler ist gelernter Koch. Der hat auch schon in der Schweiz und in England gekocht. Eigentlich kommt er von der Schwäbischen Alb, aber ist schon seit 1974 auf Sylt. Da war er Anfang zwanzig. Lange her.“

„Aha.“ Ich lese weiter. Oder Sansibars kleine Sushiauswahl?

„Aber heute kocht er nicht mehr selbst. Jetzt hat er 160 Mitarbeiter, allein in der Küche 40 bis 50. Lauter gute Köche. So, hast du dich endlich entschieden?“ Die fröhliche Bedienung ist zurück und lächelt uns an. Mein Vater lächelt zurück. „Ich nehme Leberkäse mit Kartoffelsalat und Spiegelei.“

„Papa. Nimm doch was Schönes.“

„Das ist schön. An den einfachen Sachen merkst du, ob die Küche gut ist.“

Das ist ein Argument, zumal ich mich zwischen den ganzen wunderbaren Fischgerichten nicht entscheiden kann. „Dann nehme ich die Currywurst mit Bratkartoffeln und Sansibars Currysauce.“

„Gute Wahl“, nickt mein Vater.

Ich entdecke einen TV-Moderator, dessen Begleitung ebenfalls kiesweguntaugliches Schuhwerk trägt. Weiter rechts eine Schlagersängerin, bekannt aus Funk und Fernsehen. Sie isst auch Currywurst.

„Papa, hier ist jede Menge Prominenz.“

Er nickt und guckt in eine andere Richtung. „Natürlich.

Die müssen auch irgendwo Mittag essen. Die stören mich hier nicht. Das war hier früher übrigens eine richtige Pommesbude. So ein einfacher Kiosk, wo man Sonnenöl und Kinderschaufeln kaufen konnte. Erinnerst Du Dich nicht? Wir waren damals mal hier.“

„Wann?“

Er überlegt. „Ende der Siebziger. Da hat der Seckler noch selber Erbsensuppe gekocht. Wenn man ihm damals gesagt hätte, dass er heute so ein Lokal führt, der hätte dich ausgelacht. Wusstest du, dass er ‚Restaurateur des Jahres 2009‘ geworden ist? Vom ‚Gault Millau‘ gewählt. Tja.“

Ich bekomme zwar jede Menge Information, aber nichts zu trinken. Habe ich überhaupt ein Getränk bestellt? Ich weiß es nicht, trinke einfach aus dem Bierglas meines Vaters. Er merkt es nicht, er lässt seine Blicke schweifen und erzählt weiter:

„Als Herbert nach Sylt gekommen ist, hat er erst in Munkmarsch gearbeitet, im ‚Moby Dick‘.“

Jetzt sagen wir schon „Herbert“, denke ich und beobachte vier Frauen in Pastelljäckchen, die am Nebentisch eine Flasche Champagner bestellt haben. Ihre goldenen Armbänder und Ringe blitzen in der Sonne. Ich deute in ihre Richtung und sage leise: „Champagner. Mittags. Und guck dir mal den ganzen Schmuck an.“

„Ja.“ Er wirft nur einen kurzen Blick in die Richtung. „Hoffentlich lassen die nicht die Ringe im Klo liegen. Dann gibt es wieder Geschrei. Jedenfalls hat er, also Herbert, dann den Campingplatz in Tinnum gepachtet. Das muss ganz furchtbar gewesen sein. Nur schlimme Gäste, Alkohol, Schlägereien. Das war da nichts für ihn. Hat er auch nicht lange gemacht, ein Jahr oder so, dann kam schon die Hütte hier. Und 30 Jahre später ist sie berühmt.“

Mein Vater kommt in Fahrt. Die guten alten Zeiten. Die beringten Damen lachen immer lauter und sehen sich neugierig um, ob nicht noch mehr berühmte Schöne hier sitzen.

Unser Essen kommt, mein Vater lächelt kurz, dann sieht er sein leeres Bierglas.

„Noch ein Pils?“ Die gutgelaunte Bedienung ist schneller.

Ich bestelle mir jetzt endlich ein Wasser, ich muss noch fahren. Mein Vater sieht seinen Leberkäse zufrieden, mich verständnislos an. „Hier liegen 30 000 Flaschen Wein im Keller, fast 1100 Sorten, und du trinkst Wasser. Wo war ich? Ach ja, die Hütte. Langsam fing alles an zu laufen, und dann, 1984, stell dir mal vor, war hier ein Surfcup, Secklers Hütte sollte das Hauptquartier für die Wettkämpfe werden und in der Nacht davor brannte die Hütte ab. Alles zerstört. Da konnte er wieder von vorn anfangen. Schrecklich.“

Mit gerunzelter Stirn schüttelt er den Kopf. Ich greife zu meinem Besteck.

„Er hat es ja geschafft. Guten Appetit.“

Es ist tatsächlich eine der besten Currywürste, die ich je bekommen habe. Mein Vater sieht es und freut sich. „Siehst du, sag ich doch. Aber er hat auch viel gearbeitet, der Seckler. Hier den ganzen Tag gekocht, nebenbei auf Butterschiffen gearbeitet und dabei immer normal geblieben. Das ist schon eine Leistung. Und so ganz nebenbei verkauft er auch noch eigene Klamotten, er liefert Wein an die Bahn und Essen an die Fluggesellschaften, also das soll ihm erst mal jemand nachmachen. Das hat wohl was mit dem Schwäbischen zu tun. Aber jetzt ist er Sylter, er will überhaupt nicht mehr von der Insel weg. Wie ich. Guter Mann.“

Ich entdecke schon wieder einen Schauspieler und auch einen Fernsehkoch. Sie benehmen sich völlig unauffällig, setzen sich an einen Tisch dazu und gucken fröhlich. Es scheint anzustecken.

Plötzlich bleibt die Gabel meines Vaters in der Luft. Seine Augen werden groß, seine Stimme ist eine Mischung aus Ehrfurcht und Stolz. „Da ist er. Guck schnell hin. Nicht so starren.“

In Jeans, mit engem Hemd und rundem Bauch steht der Meister am Eingang. Entspannt lässt er seine Blicke wandern. Dann geht er ein paar Schritte über die Terrasse und sieht sich um. Er grüßt zu allen Seiten, nickt in unsere Richtung: „Moin, alles gut?“

Mein Vater lächelt. Er hält die Sansibar nicht nur für ein Promilokal. Es ist mehr.