Wer mit dem Förderprogramm Erasmus ein Semester im Ausland verbringt, findet neue Freunde – und mancher sogar die große Liebe.

Für Thomas Gruttmann war es Liebe auf den ersten Blick, als er seine heutige Frau Isabelle 1991 vor dem Aufzug im Studentenwohnheim sah. Die damals 20-jährige Erasmus-Studentin kam aus Marseille nach Köln. „Wir wohnten im selben Haus und trafen uns immer wieder zufällig in den Gemeinschaftsräumen“, erzählt Gruttmann, der Versicherungswesen an der Fachhochschule studierte. Doch so richtig nah seien sie sich erst gekommen, als es 1992 in Köln ein Erdbeben gab. „Danach hatten wir uns richtig was zu erzählen“, erinnert sich der 51-Jährige. Beide wollten der Beziehung eine Chance geben und hielten den Kontakt nach der Abreise aufrecht.

Neue Sprache, fremde Kultur und andere Leute: Für viele Studenten gehört es dazu, während ihrer Ausbildung ein oder zwei Semester ins Ausland zu gehen, dort an einer Hochschule zu studieren und neue Eindrücke zu bekommen – so wie Isabelle Gruttmann. Sie ging, wie viele Studenten, mit der Unterstützung durch das Förderprogramm Erasmus der Europäischen Union ins Ausland. Dass dies auch ihr Privatleben „fördern“ würde, ahnte die Französin nicht. Sie ist damit aber nicht allein.

Jeder vierte Erasmus-Student findet die Liebe im Auslandssemester

Laut einer Studie der EU-Kommission hat jeder vierte Erasmus-Student seine Liebe im Auslandssemester gefunden. Sie basiert auf einer Online-Umfrage in 34 europäischen Ländern, Antworten von mehr als 75.000 Studenten und Absolventen flossen ein. Finden allerdings ist das eine. Das andere ist, die Beziehung über das Auslandssemester hinaus zu erhalten.

Bei Thomas Gruttmann und seiner Freundin Isabelle war das Telefon der einzige Kommunikationsweg neben mehreren Besuchen. „Knapp 1000 Deutsche Mark haben mich die mehrstündigen Gespräche ins Ausland pro Monat gekostet“, sagt Gruttmann. Doch es habe sich gelohnt. Und ob: Nach ihrem Abschluss zog die jetzt 41-Jährige nach Köln. 2001 heirateten die beiden, und mittlerweile hat das Ehepaar zwei Kinder. Die einzige Hürde zu Beginn sei nicht die Entfernung gewesen, sondern die Sprache. „Damals waren Familientreffen besonders interessant – da wurde manchmal auch mit Händen und Füßen kommuniziert“, berichtet Thomas. Wichtig sei, viel miteinander zu reden und zu akzeptieren, dass der Partner durch seine kulturelle Prägung manches anders macht und sieht als man selbst.

Auch Nicola Strehle hat sich während ihres Erasmus-Auslandsaufenthalts nicht nur in ihre Heimat auf Zeit verliebt. Sie war vorher noch nie in ­Istanbul, als sie 2012 beschloss, ihr Erasmus-Semester in der Stadt am Bosporus zu machen. Dort lernte sie ihren Freund kennen – den 27-jährigen Studenten Dani Arbid. Der gebürtige Engländer ist im Libanon verwurzelt, hat in Beirut Politikwissenschaften studiert und in New York gearbeitet. Kennengelernt hat sich das Paar im Techno-Club. „Ich wollte nie zu den Erasmus-Partys der Universität. Mir waren Clubs, in denen sich auch Einheimische tummeln, lieber – Dani ging es genauso“, sagt die 25-jährige Psychologiestudentin.

Obwohl es bereits in Istanbul gefunkt hatte, wurden die beiden erst später ein Paar. Als die Erasmus-Zeit vorüber war und Nicola und Dani erst einmal räumlich getrennt waren, überbrückten sie die Distanz nicht mit Facebook oder Skype, sondern mit langen Briefen per E-Mail. Das hat die Verbindung offenbar vertieft, denn jetzt wohnen die beiden gemeinsam in Berlin. Dieser Schritt machte aus dem Erasmus-Flirt eine stabile Beziehung.

Die Erasmus-Partys, die Dani und Nicola weniger spannend fanden, waren wiederum für Psychologiestudentin Sabine Lenz genau das Richtige. Sie lernte ihren Freund Piotr Milobedzki auf einer solchen Party kennen. Der Informatikstudent kümmerte sich an dem Abend um die Party-Fotos. Sein Lieblingsmotiv: die deutsche Studentin. „Wir haben uns gesehen und auf Anhieb gemocht“, sagt Lenz. Sie tauschten ihre Nummern aus und blieben während ihrer Zeit in Polen in engem Kontakt. „Als ich zurück zu meiner Heimat-Uni musste, wollte ich nichts erzwingen. Ich habe es einfach auf mich zukommen lassen“, erzählt Lenz.

Zwei Monate lang kommunizierten die beiden per Facebook und Skype. „Wenn man aus verschiedenen Welten kommt und sich auf eine Fernbeziehung einlässt, sollte man so viel wie möglich über die andere Kultur lernen“, rät Lenz. Und dann studierte beide in Maastricht weiter. „Wir haben erstmal drei Monate auf 15 Quadratmetern gewohnt, bis er eine eigene Wohnung hatte. Das hat uns noch mehr zusammengeschweißt“, erzählt die 26-Jährige. Nach dem Studium ist das Erasmus-Paar nach Bonn gezogen – Lenz’ Heimatort. Noch heute fragt sich die Psychologin, wie aus dem Erasmus-Flirt Liebe geworden ist. Ihre Eltern jedoch hätten es von Anfang an gewusst: „Nachdem ich von Piotr ganz unbefangen erzählt habe, sagte meinen Mutter nur: ,Jetzt ist es passiert.’“

Vom Nachhilfeunterricht in Englisch und Deutsch zur Beziehung

Die Kölner Studentin Jule wollte ihre Englischkenntnisse verbessern. Der Erasmus-Student Sam aus Warwick suchte Nachhilfe in Deutsch. Bei einer Tandem-Facebook-Gruppe lernte sich das Paar kennen. Sie trafen sich regelmäßig, um zu plaudern, mal auf Englisch und mal auf Deutsch. Aus den Zwecktreffen wurden nach ein paar Wochen Dates. Aus der Freundschaft wurde Liebe. Die 20-jährige studiert Erziehungswissenschaften und wird bald für ein Erasmus-Semester nach Uppsala in Schweden gehen. Sam muss bald wieder zurück nach Warwick. Vorerst. Denn an der neuen Liebe wollen die beiden festhalten. „Wenn man sich um einander bemüht, klappt die Beziehung trotz Entfernung.“ Davon ist Jule überzeugt. Lange wird die Trennung wohl nicht dauern, meint Jule: „Sam ist in neun Monaten mit seinem Germanistikstudium fertig – dann will er zu mir nach Deutschland ziehen.“