Nicht weit entfernt vom Polarkreis offenbart sich eine eisige Welt abseits des Après-Ski. Schlittschuhläufer aus ganz Europa kommen hierher

Der Elch hat lange Beine, ihm macht der tiefe Schnee nichts aus. Wir folgen seiner Spur durch den Nadelwald, fernab des Weges. Auch wir sinken mit unseren Schneeschuhen kaum ein. Das Thermometer zeigt 18 Grad minus, dazu kaltblauer Himmel und eine tiefe Sonne. Peter deutet auf die Fressspuren der Tiere, die hier vegetarisch den Winter überleben. Oben im Geäst haben die Elche die jungen Triebe gerupft, eine Etage tiefer hat das Rotwild die Knospen gezupft, in Bodennähe haben sich die Hasen gütlich getan.

Das Stapfen durch den Schnee bringt den Kreislauf in Schwung. Der Wald lichtet sich, die Sonne gleißt durch schmächtige Birken. Dann tut sich vor uns ein arktisches Panorama auf. Der Bottnische Meer­busen ist zu einer strahlend weißen Weite erstarrt. Peter Lundström, mein Guide, sagt: „Ich habe das jetzt schon so oft ­gesehen, aber jedes Mal ist es ein großer Moment, in dem du ganz klein wirst.“

Ein paar Schritte, und wir stehen auf der Ostsee. Das dicke Eis würde einen Güterzug tragen. Zu sehen ist es aber nicht. Pudriger Schnee, aus dem es diamanten funkelt, liegt auf allem, auf den Beulen von Steinbrocken am Ufer, auf den Packeishaufen in der Ferne.

Wir sind in der Gegend von Skellefteå im schwedischen Lappland, 200 Kilometer unterm Polarkreis. Ich bin hierher gereist, weil ich Skiabfahrten in den Alpen, lange Liftschlangen und Hütten-Remmidemmi mit Anton aus Tirol satthabe. Ich suche sportliche Alternativen und richtigen Winter. Skilanglauf habe ich zur Genüge probiert, Schneeschuhwandern noch nicht.

Gefunden habe ich dabei den Luxus des Nordens: Stille, Einsamkeit, Frische, Klarheit, Weite.

Zurück am Waldrand misst Peter eine Wärmewelle – nur noch minus 13 Grad. Mit ein paar Schaufelstichen ist eine Sitzkuhle im Schnee ausgehoben. Die Purikka, eine flache Dreibeinpfanne, wird über das offene Feuer geschoben. Zwiebelduft weht durch die Kälte. Die Rauchfahne konkurriert mit dem Schlotqualm der Kupferraffinerie am landseitigen Horizont.

Schwedens Norden ist mit Bergwerken gesegnet, in denen seit Jahrhunderten nach Erzen gegraben wird, auch nach Gold. In der Pfanne zischt Souvas, Rentiergeschnetzeltes an Kartoffeln und Senfsoße. „Kann man auch drinnen essen“, sagt Peter, „aber hier draußen schmeckt es unvergleichlich.“ Stimmt.

Yngve Hillergren tastet an seiner Hose herum, und zwar an einer Stelle, an der sich ein Mann von Anstand öffentlich eigentlich nicht zu schaffen macht. Aber der Angelhaken, der sich da verfangen hat, stört, auch wenn er nicht wirklich gefährlich ist. „Bin ein alter Mann“, scherzt Yngve, „viel Schaden kann der nicht mehr anrichten.“ Er hat im Wilderness Camp von Svansele jede Menge Jagdgeräte vorgeführt, Fallen, Flinten, Reusen. Die Altvorderen mussten sich einiges einfallen lassen, um hier, fern der Küste, 70 Kilometer westlich von Skellefteå, zu überleben.

Heute ist das Dorf eine Art Reservat für 40 Menschen, die süchtig nach dem Norden sind und sich aus Überzeugung dem entrückten, aber eben auch harten Leben hier aussetzen. Da ist zum Beispiel Floriane Colonnier. Die junge Französin aus Nantes unterhält eine kleine Herde aus Islandponys, auf denen man durch den Schneewald reiten kann. Dass es „im Winter-Winter“ nur vier Stunden Tageslicht gibt, störe sie nicht. Winter-Winter sagt sie, weil man hier acht Jahreszeiten zählt, und die ihr liebste ist die kommende, der Winter-Frühling: „Da gibt es Schnee und blauen Himmel.“

Oder Börje Stenlund, der ein Stückchen weiter westlich seine Rentierzucht betreibt. Der Same flucht auf den Klimawandel, weil in warmen Wintern der Schnee anschmilzt, wieder friert, Moos und Gräser vereist und seinen Tieren die Nahrungssuche erschwert. „Dann muss ich zufüttern und den Staat um Kredit bitten“, sagt er, „aber aufgeben? Nie! Hier führe ich ein freies Leben. Ich will keine Uhr am Handgelenk tragen.“

Heißer Blaubeersaft bringt das Leben in den Körper zurück

Unterdessen liegt die Temperatur wieder bei minus 34 Grad, und da bleibt sie auch 70 Kilometer weiter südöstlich in Ruskträsk. Morgan Liljemark zeigt mir dort, wie ich seine Alaska-Huskys zwischen die Beine klemme, um sie anzuschirren. Das Zehnergespann macht vor Ungeduld einen Höllenlärm, und dann knarzt der Schlitten auch schon hinter fliegenden Hundepfoten im Höllentempo über den gefrorenen See.

Ich bilde mir ein, meine Körpertemperatur inzwischen auf lappländisches Niveau heruntermoderiert zu haben. Aber der Fahrtwind beißt mir doch so ins Gesicht, dass mein Tränenfluss womöglich zu Eiszapfen gefriert. Als Zwischenlager für gefrostete Gäste hat Morgan im Wald ein Tipi aufgestellt. Feuer an, Kessel drauf. Heißer Blaubeersaft bringt das Leben in den Körper zurück.

„Du läufst nicht zum ersten Mal Schlittschuh“, sagt Thomas, der Trainer, und es klingt in meinen kalten Ohren anerkennend. Aber man lernt gern dazu, und die 40 Zentimeter langen, flachen Schienen sind doch ungewohnt an den Füßen. Ich habe auf dem Rückweg nach Stockholm Station im mittelschwedischen Falun gemacht. Die großen Seen in Dalarna sind ein Paradies für Schlittschuhläufer.

Auf dem Runn-See habe ich mich morgens mit einem Dutzend Sportsfreunden zur „Technik-Klinik“ eingefunden. „Das Becken weiter nach vorn, und versuche, die Füße enger beieinander aufs Eis zu bringen“, mahnt Thomas, „das ist kein Eishockey hier, sondern Langlauf. Parallele Bewegung.“

Geht tatsächlich besser so, nach ein paar Hundert Metern flitzt das Eis unter mir dahin. Es ist knallhart und schnell, reine Natur, schrundig und rissig, man muss auf Spalten achten und auf tückische, bröselige Stellen. Dieses Eis hat das Arbeitsleben eines langen Winters in sich, und eine Schar von Freiwilligen müht sich, mit Motorpflügen, Hobeln und Besen Hunderte von Kilometern Schlittschuhpisten darauf anzulegen.

Anders als auf der Kunsteisbahn daheim ist hier Leben nicht nur im Eis, sondern auch darauf. Halbprofessionell wirkende Schnellläufer in hautengen bunten Pellen ziehen ihre Bahnen. Ein paar Hundertschaften sind aus den Niederlanden angereist. Die Grachten zu Hause frieren nicht mehr zu, und die eislaufbegeisterten Niederländer spitzen seit zehn Jahren ihre schwedischen Sportsfreunde an, Pisten anzulegen. Gerade findet die Runn Winter Week statt, ein Event mit etlichen Rennen, die längsten davon über 200 Kilometer.

Nichts für mich, ich mache zehn ruhige Kilometer, kurve um Inseln, raste in der Sonne, beobachte das Treiben auf dem Eis. Kinder toben, junge Väter auf Skates schieben den rotbäckigen Nachwuchs im Kinderbuggy an der frischen Luft, reife Damen bringen den Einkauf im Spark nach Hause, eine Art Gar­tenstuhl auf Schlittenkufen. Ich probiere es auch. Sitzt sich gut auf dem Stuhl, in der Hand einen Pott Glühwein – auf Schwedisch Glögg. Auf Deutsch: Winterglück!