Die ehemalige Stahl-Stadt wirkt wie ein Kleinod an der Küste. Schon die Anreise nach Newcastle kann Kreuzfahrtcharakter haben.

Das Bild überwältigt, ebenso in der glühend roten Kulisse des Sonnenuntergangs wie im kühlen Blau eines Winterabends: Der Blick auf die Quayside von Newcastle upon Tyne zeigt die englische Stadt von ihrer besten Seite. Sieben Brücken spannen sich in Sichtweite zwischen Newcastle und der Nachbarstadt Gateshead über den Fluss Tyne, darunter so gewaltige historische Bauwerke wie die 170 Jahre alte High Level Bridge und die Tyne Bridge von 1928, deren Netze von stählernen Bögen und Streben zwischen bis zu 50 Meter hohen Türmen und Pfeilern in der Distanz ebenso filigran erscheinen wie die eher zart gebaute und kühn geschwungene Millennium Bridge von 2001, die erste Kippbrücke weltweit.

Newcastle ist ein Kleinod, das viel Britain im überschaubaren Maßstab einer Stadt mit knapp 300.000 Einwohnern bietet und deutlich preiswerter ist als London. Als größte City des nord­östlichen Ballungsraums mit dicht à la Ruhrgebiet gedrängten Nachbarn wie Sunderland, Gateshead und South Shields ist Newcastle das kulturelle Zentrum der Region nahe der schottischen Grenze, eine Stadt, die nach wirtschaftlich schwierigen Jahren spürbar aufblüht und entdeckt werden will.

Das Industriegebiet Ouseburn wurde zum In-Viertel

Es führen viele Wege dorthin, keiner ist Newcastle so gemäß wie der von See her. Denn der Fluss Tyne ist die alte Hauptschlagader der Stadt. Die dänische Reederei DFDS Seaways bietet eine tägliche Verbindung mit zwei Fähren an, die über Nacht wechselseitig zwischen Amsterdam und Newcastle verkehren, eine angenehme Passage mit Kreuzfahrtcharakter. Nach knapp ­17-stündiger Überfahrt fährt die „King ­Seaways“ in den Tyne ein, passiert in der Mündung die Städte Tynemouth und South Shields und legt kurz darauf an. Newcastle selbst liegt weitere 15 ­Kilometer flussaufwärts.

Central Arcade
Central Arcade © HA | Lutz Wendler

Passende Begleitung könnte Musik von Sting sein, der als Gordon Matthew Sumner 1951 im Vorort Wallsend geboren wurde und in seiner Jugend das Sterben der Werftindustrie erlebte. Blüte und Niedergang der Region beschrieb er 2013 in dem Musical „The last Ship“.

Es ist nützlich, dies zu wissen, um das heutige Newcastle besser zu verstehen. Denn die Stadt hat viele Gesichter, die sich häufig unvermittelt nebenein­ander zeigen. Für die große Zeit einer im 19. Jahrhundert prosperierenden ­Industriestadt steht das Geschäfts­viertel Grainger Town in der Oberstadt. Rund um Grey’s Monument, das 1838 errichtete Denkmal für Charles, den zweiten Earl Grey, zeigt sich in der gut erhal­tenen Architektur georgianischer und viktorianischer Zeit der frühere Reichtum der Stadt.

Party-Meile und Shopping-Center in der früheren Stahl-Stadt

In dieser Phase profitierte Newcastle von Kohlebergbau, Stahlproduktion für Schiffe, Eisen­bahnen und große technische Bauwerke sowie von einem durch hemmungslosen Fortschrittsoptimismus beflügelten Unternehmertum. Die 40 Meter hohe Säule, auf der das Denkmal steht, ist ­begehbar und wird als ideal gelegener Aussichtspunkt genutzt.

Gegenüber sind die Balkons der Bar „The Botanist“ in der oberen Etage eines ­Hauses direkt an der Monument Mall – ein reizvolles Beispiel für die gastro­nomischen Angebote einer Stadt, die wegen ihrer hohen Dichte an Craft Beer Pubs, Cocktail Bars, Clubs, oft mit Live-Musik, und vielfältigen Restaurants als Party-Meile gilt. Die Straßen werden abends zum Laufsteg.

Angel of the North
Angel of the North © Getty Images/VisitBritain RM | Colin Weston

Unübersehbar auch, dass Newcastle eine Einkaufsmetropole ist. Nahe beim Monument liegen das intu Eldon Square Shopping Centre mit mehr als 130 ­Geschäften, die betagte Passage Grainger Market mit dem äl­testen Shop von Marks & Spencer sowie die Northumberland Street mit Markenstores.

„Früher waren viele Fassaden so verrußt, dass die Schönheit der Ge­bäude kaum noch erkennbar war“, sagt Guide Alex Jacobs. „Aber die Stadt erlebt einen Neuanfang, mit ­vielen jungen Bewohnern dank der zwei Universitäten und des großen touristischen Potenzials.“ In den 90er-Jahren schien die Stadt abgehängt, die Arbeitslosigkeit habe zeitweise 35 Prozent betragen.

Kein Viertel illustriert den Wandel so gut wie The Ouseburn, damals ein heruntergekommenes Gewerbe- und Industriegebiet mit Leerständen und Brachen, durchschnitten von Eisenbahnbrücken. Heute ist Ouseburn ein In-Viertel mit viel Kultur in alten ­Gebäuden, etwa The Biscuit Factory, der größten englischen Galerie für zeitgenössische Kunst, Kunsthandwerk und Design, dem nationalen Kinderbuchhaus Seven Stories oder der Druckerei Northern Print, die mit Künstlern zusammenarbeitet und zudem Kurse für Interessierte anbietet.

Die Quayside erweist sich als prächtige Uferpromenade

Auch die fast vergessene Geschichte des Viertels wird wiederentdeckt und als touristische Attraktion neu genutzt: Der enge Victoria Tunnel hinunter zum ­Tyne diente einst dem Kohletransport und wurde 100 Jahre später im Zweiten Weltkrieg von Zehntausenden als Luftschutzkeller genutzt. Wie die Menschen sich damals gefühlt haben, lässt sich bei der Tour im bedrückend engen, feuchten Tunnel mit Schrecken erahnen.

Alex Jacobs ist gebürtiger Deutscher und überzeugter Geordie, wie die Bewohner der Region – und ihr Dialekt – genannt werden. Nach seinem Studium blieb er in Newcastle und gründete die Firma Northern Secrets, die maß­geschneiderte Reisen in Northumberland, nach Yorkshire und Schottland ­organisiert und begleitet. Oder auch Ausflüge in die nähere ­Umgebung, zum Beispiel mit der Metro in den Badeort Tynemouth, wo etwa die Besich­tigung der Ruinen von Burg und Benediktinerkloster zu empfehlen ist, ergänzt um einen Fish-&-Chips-Imbiss bei „Riley’s“ am Strand oder in der Edelversion bei „Longsands Fish Kitchen“ an der Hauptstraße.

Premier League: Die Top-Clubs zu moderaten Preisen sehen

Sightseeing in Newcastle ist ein Spaziergang, fast alles ist zu Fuß erreichbar. Ein Weg führt zum St. James’ Park, dem Fußballstadion des Erstligisten Newcastle United. Der Club selbst ist nur Mittelmaß in der Premier League, doch für Touristen interessant, weil DFDS Seaways Fußball-Paketreisen im Programm hat und damit die Chance bietet, Spitzenclubs wie Manchester United oder den FC Liverpool zu moderaten Preisen live zu sehen.

Der weitere Weg führt durch Chinatown nach Old Newcastle. Nahe der gotischen Kathedrale stehen die Re­likte der normannischen Burg: ein massiver Festungsturm sowie der Barbican, das Black Gate genannte Torhaus, das Tolkien bei der ­Gestaltung von Mordor, dem Reich des Bösen in „Der Herr der Ringe“, inspiriert haben soll. Danach geht es hinunter zum Fluss. Unterhalb der hoch aufragenden Tyne Bridge werden die wahren Dimensionen der Brückenlandschaft von Newcastle deutlich.

Dort liegt auch der Ursprung der Siedlung, die als eines von 16 Forts am Ha­drianswall die Nordgrenze des römischen Reichs gegen schottische Stämme sicherte. Auf Höhe der Swing Bridge, einer niedrigen Drehbrücke aus den 1870er-Jahren, querte die im ersten Jahrhundert errichtete Pons Aelius den Tyne. Spuren aus römischer Zeit sind aber nicht mehr sichtbar.

Die Quayside erweist sich als prächtig herausgeputzte Uferpromenade. In der Schwesterstadt Gateshead lockt am gegenüberliegenden Ufer das futuristische Konzert- und Veranstaltungshaus The Sage wie ein überdimensioniertes Gürteltier mit glänzendem Panzer. Daneben steht das Baltic Centre for Contemporary Art, ein Ausstellungszen­trum in einem ehemaligen Getreidespeicher.

Den Ausflug über den Tyne lohnt auch das intu Metrocentre, mit mehr als 340 Geschäften Europas größtes Indoor-Einkaufszentrum. Unbedingt zu empfehlen ist ein Abstecher per Bus oder Taxi ins südliche Gates­head zum Wahrzeichen der Region, dem Angel of the North. Der 20 Meter hohe, stählerne Engel scheint mit seinen auf einer Spannweite von 54 Metern ausgebreiteten Flügeln die ganze Welt zu umarmen. Man darf das als Einladung der gastfreundlichen Geordies verstehen.