Zum Naturschutzgebiet im Südosten Portugals gehört auch die kleine Insel Culatra – ein Kleinod inmitten einer Lagunenlandschaft, die nur wenige kennen

Einfach dramatisch schön, wie die Sonne bei Farol im Meer versinkt, wie golden-rotes Magma kippt sie in den Horizont. Es ist dieser Bilderbuch-Moment, der einen erst verzaubert und dann darüber nachsinnen lässt, warum Hamburg beim europäischen Wetter-Bingo immer den Kürzeren ziehen muss, was schade ist, bringt doch das warme Sonnenlicht unsere Stadt erst richtig zur Geltung. Also: Die Ostalgarve mit ihren kilometerlangen Sandstränden ist schön, wunderschön; aber dieser Augenblick an der Südspitze der Insel Culatra setzt noch einen drauf. Wer die Gnade hat, das Schauspiel jeden Tag erleben zu dürfen – wie der schweigsame Leuchtturmwächter von Farol (dazu später mehr) –, der muss ein glücklicher Mensch sein. Ihm möchte man jedenfalls von tiefstem Herzen gratulieren.

Wie man überhaupt die Portugiesen zu diesem Fleckchen Erde beglückwünschen möchte, zu ihrer Ostalgarve mit dem malerischen Naturpark Ria Formosa im Zentrum. Diese Region im ­Süden hat natürlich mehr als Sonnenuntergänge zu bieten, die zum träumerischen Verweilen einladen; mehr als warme Tage und Nächte in den Herbstmonaten, mehr als makellose Sandstrände. Das Gebiet östlich des touristischen Drehkreuzes Faro, wegen seiner felsenlosen Beschaffenheit auch Sandalgarve genannt, ist stellenweise so leer gefegt, dass man bei manchen Strandspaziergängen glauben könnte, man sei der einzige Besucher weit und breit.

Das ist durchaus eine Erwähnung wert, zumal die Algarve, vor allem der westliche Teil, immer neue Rekorde bricht. Allein 2016 checkten im Vergleich zum Jahr davor zwölf Prozent mehr ausländische Gäste in die Hotels und Pensionen im Süden Portugals ein. Neue, teils exklusive Hotels entstehen zwar auch an der Ostalgarve überall, von touristischer Massenhaltung ist man hier aber ganz weit weg. Auch größere Unterkünfte fügen sich so gefällig in die Landschaft ein, dass sie den Blick nicht trüben. Und die kleineren suchen sich ohnehin ihre Nischen.

Das gilt im speziellen für das Hotel Casa Modesta, einst ein Bauernhof, jetzt ein topstylishes, für seine minimalistisch-moderne Architektur preisgekröntes und familiengeführtes Hotel im Fischerstädtchen Olhao. Mit Carlos Brito Fernandes, dem Rezeptionschef mit Hipster-Bärtchen, schlendern wir durch den Garten der kleinen, perfekt durchgestylten, trendig auf Bio und Nachhaltigkeit getrimmten Anlage. Rund um den Mini-Pool sprießen Pflanzen und Sträucher, wächst ­alles, was für die Degustation der Gäste benötigt wird: Paprika, Orangen, Zitronen, und, und, und. Was bei den Modestas auf den Tisch kommt, hat seine Wurzeln in der Modesta-Erde. „An der Ria Formosa wollen wir auf keinen Fall die Fehler wiederholen, die auf Mallorca gemacht wurden“, sagt Fernandes. Massentourismus? Geht gar nicht. Wer, fragt man sich leise, will auch schon Hand an dieses stille und sich weitgehend selbst überlassene Refugium legen wollen?

Einen kleinen Vorgeschmack auf das Idyll, die Ria Formosa, gibt es von der Dachterrasse des schneeweißen Ensembles aus – von dort hat man einen Erste-Klasse-Blick auf die riesige, bei einem See- und Erdbeben im Jahr 1755 entstandene Lagune, die das 170 Qua­dratkilometer große Naturschutzgebiet im Wesentlichen ausmacht. Der Naturpark ist eines der größten Lagunen­gebiete Europas und zieht sich 60 Kilometer, von Quinta do Lago im Westen bis nach Manta Rota im Osten, vom Meer nur durch Sandbänke getrennt. Störche, Graugänse, Löffelreiher und Flamingos finden hier eine Heimat.

An der Ria Formosa ist die Hektik ganz weit weg. Wer am Nationalpark nicht zur Ruhe kommt und „entschleunigt“, bei dem funktionieren die Bremsen ohnehin nicht mehr, der schafft es auch woanders nicht. Natürlich kann man in Orten wie Olhao auch Party ­machen. Doch wer fährt mit dieser ­Absicht schon an die Ria Formosa, wo das Spiel der Gezeiten den Takt vorgibt, wo in aller Herrgottsfrühe Muschelsammler durchs Watt stapfen und Fischer ihre Netze auswerfen, begleitet von ihren zotteligen Gehilfen, den portugiesischen Wasserhunden.

Während ein warmer Wind weht, schippern wir mit dem Boot durch die zentrale Lagune. Um einen Rastplatz für Zugvögel zu schaffen, wurde sie 1987 unter Schutz gestellt. Inzwischen beherbergt sie im Winter mehr als 20.000 Zugvögel. An einer Sandbank erwarten uns der Meeresbiologe Christiano Fivza und sein Kollege Ricardo Badalo. Die beiden führen Touristen zu den Siedlungsplätzen der extrem scheuen Seepferdchen. 33 Seepferdchen-Arten gibt es weltweit, zwei sind an der Ria Formosa heimisch.

„Nachdem die Population durch illegales Fischen dezimiert wurde, wächst sie nun wieder“, sagt Fivza. Vor zehn Jahren seien die winzigen Tiere sogar noch als Souvenir verkauft worden. Dabei sind Seepferdchen selbst für erfahrene Taucher wie Ricardo Badalo nicht ohne Weiteres aufzuspüren. Nach halbstündiger, erfolgloser Suche zieht er lediglich einen Oktopus aus dem Wasser, der beim Wiedereintauchen gleich eine Ladung Tinte abfeuert. Es dauert weitere 15 Minuten, bis er dann doch ein Seepferdchen entdeckt und seinen Kunden stolz im Plastikbeutel präsentiert – nur gucken, anfassen verboten! Faszinierend.

Mit dem Boot geht es weiter zum Markt nach Olhao, wo Gucken und Anfassen wiederum ausdrücklich erwünscht ist. Nach nur zehn Minuten Bootsfahrt riecht es wieder nach Zivilisation, nach Knoblauch, Blumen und natürlich nach Fisch. In einer der zwei riesigen Hallen aus rotem Ziegel, am Ufer des Fischerstädtchens gelegen, gehen Frischfisch- und Meeresfrüchte über die Theke. In der anderen Obst, Gemüse und lokale Spezialitäten wie das portugiesische Spritzgebäck Farturas. Wer am Sonnabend über den Markt schlendert, lernt allerdings eine andere Seite der Ria Formosa kennen – denn in Olhao brummt das Leben. Da ist Schluss mit Ruhe.

Wer vom Trubel genug hat, der tuckert mit dem Boot einfach zu einer der sieben Ilhas (Inseln) im Lagunengebiet, am besten zur Dünen-Insel Culatra. Nur 1000 Menschen wohnen auf dem Eiland, Hotels sucht man vergebens. Culatra ist die einzige der sieben Inseln, auf der überhaupt ganzjährig Menschen ­leben, vor allem Fischer und Muschelsammler, ebenso stur wie stolz. Als vor einigen Jahren zur Debatte stand, auf der Insel eine Polizeistation zu errichten, wehrten sich die Culatraner mit Händen und Füßen. Für die Ordnung auf dem Eiland könnten sie schon selbst sorgen, hieß es damals.

Beispielhaft für die Mentalität der eigensinnigen Insulaner könnte Guilherme Silva stehen, der Mann führt seit 22 Jahren ein Leben wie ein Eremit. Seitdem steht Silva nämlich als Wärter des Leuchtturms Santa Maria am Dorf Farol im Dienst der örtlichen Verwaltung. Zur Besichtigung des 46 Meter hohen Solitärs schlurft der knurrige Kerl in aller Gemächlichkeit zum Eingangstor, nickt seinen Gästen zur Begrüßung nur stumm zu. Auf Culatra ist das offenbar der Rhythmus, bei dem man mitmuss. Oben bietet sich uns, vom Wind umtost, eine tolle Aussicht auf die Insel, auf die Lagune und den Strand.

Für Besucher gibt es am Hafen von Culatra indes nicht viel zu entdecken, aber umso mehr zu schmecken. In der Hafenbar „Januco“ etwa, wo sich mittags fast nur Fischer und Muschelsammler treffen, servieren sie vorzügliche Langusten und Doraden. Da stört es nicht, dass das Ambiente – Sperrholztische, Papierdeckchen, wacklige Stühle – deutlich weniger exklusiv als die Speisen daherkommt. Schon zur Mittagszeit wird hier fleißig Sagres gereicht, die portugiesische Biermarke Nummer 1. Die Culatraner bechern ja auch ganz ordentlich: Nirgendwo anders in Portugal ist der Pro-Kopf-Verbrauch von Sagres höher als auf Culatra.

Angebote von Delfingucken bis Palmblätterflechten

Der Naturpark lockt mit leisen Tönen. Und dem Versprechen nach mit echter Erholung. Rund um die Lagune ist eine Art Wohlfühl-Industrie entstanden, die Reisenden mit Hang zum Öko- und Individualtourismus einen angenehmen Aufenthalt ermöglichen will. Die Bandbreite der Angebote reicht vom umstrittenen Delfingucken bis zum traditionellen Palmblätterflechten. Ein Erlebnis der besonderen Art ist definitiv ein Tripp mit dem Boathouse, zu mieten für 250 Euro pro Nacht. Per Wassertaxi werden Kunden zu dem Schiff mitten auf der Lagune gebracht, gegen einen Aufpreis gibt es ein „show cooking“ mit Koch und Kellnern, wahlweise werden Fisch-, Sushi- oder Fleischgerichte frisch zubereitet. Die Nacht verbringen die Gäste dann unter Deck in einer fast vollständig verglasten Kajüte mit Doppelbett, während das Boot sanft in den Wellen schaukelt. Garantiert unbezahlbar, zum Schwärmen schön und so romantisch: der unverstellte Blick vom gepolsterten Sonnendeck auf den Sternenhimmel.

Nur zum Faulenzen ist die Zeit dort aber verschenkt. Das flache, weitläufige Terrain lädt zum stundenlangen Herumwandern, Joggen oder Radfahren ein. Die Landschaft ist gewöhnungsbedürftig, hat aber ihren Reiz. Überall ausgelaugte Böden und Salzbecken in Orange- und Gelbtönen leuchtend, dazwischen Erdschollen, die aussehen, als hätte jemand Puderzucker darübergestreut – aber natürlich liegt hier kein Zucker, sondern das Gold der Algarve: Salz. Die Gewinnung ist ein Riesengeschäft für die Salinen der Region. Unter Gourmets ist die Algarve als Quell feinsten Salzes vom Typ Flor de Sal hochgeschätzt. Grundsätzlich ist die Ostalgarve, sagen wir mal, der Birkenstock unter den Urlaubsregionen Portugals. Ziemlich öko, ein bisschen sophisticated, sehr speziell, nicht ganz billig – aber garantiert unvergesslich.