An Graffiti scheiden sich die Geister. Das Interesse von Touristen an Straßenkunst-Führungen ist jedoch groß

Urlaubern ist das klassische Sightseeing nicht mehr genug. Zumindest legt das ein Blick auf die vielen touristischen Angebote nahe. Neben Klassikern wie Stadtrundfahrten oder Museums­besuchen scheinen Aktivitäten mit Einheimischen immer beliebter zu werden. Sie sollen das Lebensgefühl einer Stadt erlebbar machen. Das Angebot reicht von Kochkursen bis hin zu Stadtführungen mit Locals. Aber auch Kunst abseits großer Museen und Galerien interessiert Reisende. Ob in New York, Toronto oder Bristol, der Heimatstadt des ­berühmten Streetart-Künstlers Banksy: Graffiti-Touren gewinnen zunehmend an Bedeutung.

Auch in Berlin gibt es einiges an Streetart zu sehen. Gerade ist für einige Wochen die Streetart-Schau „Radius“ in Berlin-Schöneberg geöffnet. Im Herbst soll die Hauptstadt dort sogar ein festes Museum für Streetart bekommen – das Museum für Urban Contemporary Art. Zu finden sind Graffitis fast an jeder Straßenecke in Berlin, und nicht jeder sieht sie unbedingt als Kunst an – sie sind es auch nicht immer. Leonardo ­Leckie, der seit sieben Jahren für San­demans New Europe Streetart-Touren durch Berlin leitet, sagt: „Die Hälfte meiner Touristen nimmt Streetart zunächst als Schmiererei wahr.“ Erst im Laufe der Tour entdecken sie den künstlerischen Aspekt und fangen an, es zu mögen. Auch Christian Tänzler von Visit Berlin gibt zu bedenken: „Die Entscheidung zwischen Vandalismus und Kunst liegt oftmals im Auge des Betrachters.“ Während sogenannte Tags im öffentlichen Raum und das „Bombing“ von Zügen klar als Vandalismus gedeutet werden können, verschwimmt die Grenze, je künstlerischer die Streetart ist. Einige Werke werden toleriert, obwohl sie rein rechtlich illegal sind.

1989 entstand eine neue Graffiti-Bewegung

„Jegliche Art von Veränderung oder Beschädigung an einem Objekt, das dem Künstler nicht gehört, ist Sachbeschädigung“, sagt auch Hendrik auf der Heidt, der bei Urban Artists Graffiti-Workshops anbietet. So wird selbst die schönste Streetart ohne Genehmigung zur Straftat. Er bezeichnet Streetart als „jegliche kreative Veränderung des urbanen Raums“. Diese Beschreibung umfasst alle möglichen Formen der Umgestaltung. Streetart hat sich aus der Graffiti-Kultur entwickelt und ist „expressionistischer, kreativer und individueller“, sagt auf der Heidt, ein in der Szene bekannter Graffiti-Künstler.

Neben Graffitis gibt es heute viele weitere Arten von Streetart. Dazu zählen Kreidemalereien genauso wie Tape Arts und Paper Arts, bei denen vorgefertigte Kunstwerke an öffentliche Wände geklebt werden. Zu dieser vorbereiteten Streetart-Kunst zählen auch Street ­Yogi. Das sind kleine Korkmännchen, die kaum sichtbar auf Straßenschilder geklebt werden. Erfunden hat die kleinen Figuren ein Berliner Yoga-Lehrer. Zu entdecken sind die Yogi auf Streetart-Touren, diese haben die meisten Sightseeingtouren-Anbieter im Programm. Angebote für Touristen finden sich in Berlin bei Alternative Berlin Tours, Freetours by foot, Berlin on Bike oder auf Buchungsportalen wie Get Your Guide, Expedia oder Tripadvisor.

Mit dem Fall der Mauer 1989 entstand in Berlin eine ganz neue Graffiti-Bewegung. Gangs starteten mit Sprühdosen und Graffitistiften mit der Verbreitung ihrer Kürzel, den Tags. Seitdem zählt Berlin neben New York und London zu den bekanntesten Streetart-Metropolen der Welt. Tänzler führt das auf das kreative Potenzial der Stadt und die hohe Anzahl unsanierter Objekte zurück. „Jeder Künstler will mit seiner Kunst etwas ausdrücken. Die Geschichte Berlins geht einher mit der Verarbeitung von Angst und Emotionen. Das hat Streetart in der Hauptstadt groß gemacht“, sagt er.

Am bekanntesten ist wohl die East Side Gallery. 118 Künstler aus fast zwei Dutzend Ländern gestalteten 1990 das längste erhaltene Stück der Berliner Mauer. Ein weiteres Beispiel ist der von Victor Ash geschaffene Astronaut in der Mariannenstraße im Stadtteil Kreuzberg. Er symbolisiert den Wettlauf im All zwischen den USA und Russland während des Kalten Kriegs. Als Sinnbild für den Faschismus gilt der pinke Riese „Leviathan“ vom italienischen Künstler BLU hinter der Oberbaumbrücke. ­Leckie sieht „Streetart als Ergänzung des klassischen Sightseeings“. Viele seiner bis zu 40 internationalen Touristen am Tag machen vorher die klassischen Sightseeingtouren mit. Erst an zweiter und dritter Stelle steht eine Streetart-Tour. In den vergangenen sieben Jahren aber hat Leckie gemerkt, dass es immer schwieriger wird, Streetart in Berlin zu entdecken. „Die Stadt entwickelt sich schnell. Es wird viel saniert, die Preise steigen und der sozioökonomische Strukturwandel hält an“, sagt er. Weniger Streetart entsteht und alte Werke gehen verloren.

Wie seine Zukunft als Guide für Streetart-Touren aussieht, ist ungewiss. Zumindest die Kunstwerke der berühmten East Side Gallery werden Berlin wohl erhalten bleiben. Sie werden in regelmäßigen Abständen saniert.