Der sagenumwobene See im Norden Brandenburgs ist ein perfekter Ort für ruhige Tage in unberührter Natur

Fischer Minack aus Neuglobsow ist ein roher Geselle. Allen Warnungen zum Trotz wirft er sein Netz an einer tiefen und deshalb besonders gefürchteten Stelle aus. Als es sich an einer Wurzel verfängt, will er es lösen, doch bei dem bösen Sturm droht sein Kahn zu kentern. Todesangst befällt den hart­gesottenen Mann. Just da taucht der Rote Hahn aus den Fluten auf. Mit mäch­tigen Flügeln peitscht der Schutzpatron des Sees zornig das Wasser. Mit donnerndem Krähen betäubt er den raubgierigen Fischer. Und mit mörderischen Krallen packt er den Unseligen und zieht ihn mit sich hinab in die Tiefe.

Oft hat Reiner Böttcher diese Geschichte erzählt, sie steckt ihm sozusagen im Blut. Ein roter Riesengockel schmückt schließlich seine Fischerei, in der zu Lunch und Dinner auf den rustikalen Tisch kommt, was Böttcher täglich dem Stechlin abringt. Der See ist sein Leben, er war es schon für Vater Adolf, er ist es inzwischen auch für Sohn Martin, den siebten in der Fischerdynastie. Der See ernährt die Familie seit Generationen, er liefert ihnen Maränen, Hechte, Barsche, Aale, Rotaugen und Rotfedern. Zander oder Karpfen allerdings sucht man im nährstoffarmen Stechlin vergeblich – „die würden hier glatt verhungern.“

Praktisch jeden Tag sind die Böttchers auf dem Stechlin zugange. Sie kennen den Star und seine Allüren am besten. Sie spüren, wenn er in Rage gerät und dann meterhohe Wellen ans Ufer speit. Sogar eine Windhose hat Reiner schon erlebt: „Der Tornado raste übern See geradewegs auf die Fischerei zu. Wir waren schon beim Stoßgebet, da bog er urplötzlich scharf nach links ab und raste in den Wald – wie ein donnernder Expresszug.“

Schriftsteller Theodor Fontane setzte dem Ort ein Denkmal

Mythos Stechlin. Kein anderer See im Osten Deutschlands ist annähernd so geheimnisvoll und sagenumwoben wie der Große Stechlinsee im Norden Brandenburgs, hart an der Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern. Vor über 100 Jahren unsterblich eingraviert in die ­literarische Ewigkeit von Theodor Fontane. Für den Schriftsteller seinerzeit ein Symbol des sozialen Wandels und der magischen Verbindung des abgeschiedenen Ortes mit der großen weiten Welt. Für seine Leser fortan ein Sehnsuchtsziel – sie kamen in Scharen, und jeder wurde reich und nach seiner Fasson belohnt.

Mit Reiner und Martin Böttcher stechen wir in See. Normalerweise geht das nur per Ruderboot, denn am Stechlin herrscht strengster Naturschutz. An seinen Ufern darf nichts gebaut, in sein Wasser kein privates Boot gesetzt, am Wasser nur an ausgewählten Plätzen gebadet und unter Wasser nur in bestimmten Zonen zu festgesetzten Zeiten getaucht werden. Nur Fischer und Forscher dürfen Bootsmotoren benutzen – nichts soll den quasi heiligen Status stören.

Denn in der Tat ist der Stechlin ein See der Superlative: Mit fast 70 Metern so tief wie kein anderer, mit bis zu zwölf Meter Sicht einsame Spitze für einen Binnensee. Dieses Wassers wegen nannten schon die Slawen ihn Steklo – das heißt Glas. An seinem landschaftlichen Charme berauschte sich auch Fontane: „Ein prächtiger Wald, mit seinen schönsten Eichen, Buchen und Kiefern und hohe, zum Teil sehr steil zum Ufer abfallende Berge schließen schützend seine klaren Silberfluten ein, welche uns gestatten, noch bei zehn Meter Tiefe bis auf den Grund zu schauen.“

Die Bootstour ist folglich ein Hochgenuss. Bei herrlichem Wetter stört keine Menschenseele das Gesamtkunstwerk aus Wald und Wasser, Himmel und Wolken, die sich spiegeln im leicht gekräuselten Wasser. Ein Schwan übt Starts und Landungen. Ein Milan kreist überm Boot und spekuliert auf einen Fischsnack. Zwei Schellenten flattern synchron übers Wasser – ihr Fluggeräusch erinnert an das Schellen einer Glocke. Nicht weit entfernt nisten Adler, legen Biber Bäume um. Nur eine Stunde nördlich von Berlin steckt man mittendrin in Wildnis und Einsamkeit – Kanada-Feeling par excellence.

Auch wenn man den See dann irgendwann wieder verlässt – das wunderbare Gefühl bleibt. Denn der in der Eiszeit geborene Stechlin ist auch Herzstück des Naturparks Stechlin-Ruppiner Land. 680 Quadratkilometer urwüchsige Natur mit Buchenwäldern und Klarwasserseen, Mooren und Moorwäldern. Heimat von Fischottern und Sumpfschildkröten, Fisch- und Seeadlern, Kranichen und Eisvögeln. Wappentier des Naturparks ist die Schellente, die wegen ihres goldenen Augenrings im Englischen „Goldeneye“ genannt wird. Kuriosum: Schellenten brüten gern in verlassenen Schwarzspechthöhlen alter Buchen. Die Baby-„Wattebäusche“ hüpfen dann aus ihren acht bis zwölf Meter hoch liegenden Nestern auf den Boden und watscheln der Entenmutter zum Schwimmtraining nach.

Ein zwölf Kilometer langer Pfad führt durchs Moor

Das alles erfahren wir von Naturführerin Karin Schössler, die uns außerdem die Augen öffnet für ein besonders spannendes Thema im Naturpark: Moore. Wie viele dieser geheimnisvollen und unheimlichen Biotope es genau sind, vermag auch die Expertin nicht zu sagen; ganz exakt hingegen weiß sie, wie Moore entstehen, wie sie beschaffen sind, wie sie funktionieren, welche unterschiedlichen Arten und Formen es gibt. „Von Moor zu Moor“ heißt denn auch ein höchst interessanter Erlebnispfad, der auf zwölf Kilometer Länge fünf Moortypen anschaulich vorstellt – natürlich jeweils direkt am Objekt. Weit hineinreichende Holzstege machen es möglich nachzuempfinden, was Anette von Droste-Hülshoff einst schrieb: „Oh schaurig ist’s, übers Moor zu gehen.“

Wer oder was dann tatsächlich in einem Moor versinkt, bleibt äußerlich unversehrt: „Moore konservieren perfekt“, erklärt Schössler, „egal, ob Bäume, Pflanzen, Tiere oder Menschen. Denken Sie nur mal an die grusligen Moorleichen. Deshalb nennen wir die Moore auch Tagebücher der Region.“