Hangzhou galt einst als „schönste und erhabenste Stadt der Welt“. Ab Sonntag tagt dort der G-20-Gipfel

Decken, Wände und Verkaufstheken aus dunklem Holz schlucken den Schein der Neonlampen. Nur langsam gewöhnt sich das Auge an das schummrige Licht, und der Besucher erkennt, was sich in den Vitrinen stapelt: tellergroße Baumpilze, zerfaserte Wurzeln, eingelegte Kriechtiere. Frauen in weißen Kitteln schütten Pulver und Kräuter in silberne Schalen, wiegen ab, mischen. Noch heute werden in der 1874 gegründeten Apotheke Hu Qingyu Tang Tinkturen und Salben nach uralten Rezepturen hergestellt. Sehr beliebt sei ein Tonikum für ewige Jugend, erzählt eine Verkäuferin.

Die Apotheke Hu Qingyu Tang ist eine der Sehenswürdigkeiten Hangzhous, und vielleicht versorgt sich dort bald mancher Staatschef mit den Wundermitteln chinesischer Medizin. Denn am 4. und 5. September steht die rund 200 Kilometer westlich von Shanghai gelegene Stadt im Weltmittelpunkt. Dann tagt dort der G-20-Gipfel.

Für die Chinesen hatte die heutige Hauptstadt der Provinz Zhejiang schon immer eine besondere Bedeutung. Sie gilt als Wiege der chinesischen Zivilisation, ihre Gründung liegt mehr als 2200 Jahre zurück. Marco Polo soll sie im 13. Jahrhundert „schönste und erhabenste Stadt der Welt“ genannt haben. Bereits damals war der Westsee ein bekanntes Reiseziel, und auch heute ist der nur zwei Meter tiefe See mit seinen Parks und Gärten beliebtes Ziel einheimischer Touristen. 2011 erklärte die Unesco den Westsee zum Weltkulturerbe. Westlich des Sees befindet sich der Lingyin-Si-Tempel, eines der be­deutendsten Klöster Chinas. Gegründet wurde es im Jahr 328 von einem indischen Mönch. Heute bewundern Scharen von Touristen den neun Meter hohen vergoldeten Shakyamuni-Buddha und schütteln vor der Halle ihre Räucherstäbchen, damit der Rauch ihre Wünsche zu Buddha bringt. Zum Programm gehört ein Ausflug ins Teedorf Longjing, dort wächst der berühmteste grüne Tee Chinas. Begehrt ist er nicht nur wegen seines Geschmacks, sondern auch wegen der Wirkstoffe, die gut für schnelles Denken, die Verdauung und bei hohem Blutdruck sein sollen.

Wer mehr über die Teekultur erfahren will, kann das Teemuseum besuchen und sich über Geschichte, Produktion und Wirkungen informieren. Im nationalen Seidenmu­seum lassen sich 2000 Jahre alte Seidenstoffe bewundern, und man erfährt alles über die einzelnen Schritte der Seidenproduktion. Schließlich ist Hangzhou bekannt als die Seidenstadt Chinas.

Doch die einst schönste Stadt Chinas ist heute ein Moloch mit Wohnblocks, Verkehrsstaus und boomender Wirtschaft. Sie ist Sitz des größten chinesischen ­E-Commerce-Unternehmens Ali­baba und wird auch als Silicon ­Valley Chinas bezeichnet. Knapp neun Millionen Einwohner leben dort.

Für die aus aller Welt angereisten Staatschefs soll der Himmel wieder blau werden. Wie in China bei ­wichtigen Ereignissen üblich, werden dazu die Fabriken geschlossen. Laut „South China Morning Post“ mussten alle Unternehmen im Radius von 300 Kilometern um das Hangzhou Olympic Sports Expo Centre, dem Hauptort des G-20-Gipfels, ihre Produktion vom 26. August bis 6. September einstellen. Überhaupt haben die Chinesen bei der Vorbereitung des Gipfeltreffens ganze Arbeit geleistet. Überall wurde die Stadt verschönert, Häuserfassaden wurden frisch angestrichen, hässliche Klimaanlagen hinter Balkonattrappen versteckt und neue Bürgersteige gebaut. Alte und wenig attraktive Stadtviertel wurden mit Bulldozern dem Erdboden gleichgemacht. Und für die Sicherheit ­sollen neben der Polizei Tausende Freiwillige – meist Frauen mit roten Armbändern – sorgen. Wenn der G-20-Rummel vorbei ist, werden Touristen die Stadt am Westsee wieder stürmen.

Im kommenden Jahr findet das Treffen der Staatschefs, der G-20-Gipfel, in Hamburg statt.