Faszination Indien und Mythos Ganges – eine gemächliche Schiffsreise auf dem heiligsten aller Flüsse, die mit der „Rajmahal“ in sieben Tagen von Patna nach Kalkutta führt

Vor ein paar Tagen, im Großstadtdschungel von Varanasi, der Stadt, die früher in Europa als Benares bekannt war: grelle Sonne, Hitze und Chaos. Der Weg zum Fluss, den sie in Indien Ganga Mata nennen, göttliche Mutter Ganges, führt durch alle Düfte, Geräusche, Gerüche, Farben und Bilder dieses Landes, so anziehend wie abstoßend, so anarchisch wie letztlich doch funktionierend.

Pralle Lebenslust im Univiertel, junge Leute mit dem Coffee-to-go-Becher in der einen, das Smartphone in der anderen Hand. Prunk und Protz im Hochzeitszug einer reichen Familie, der, ausgleichende Gerechtigkeit, im Verkehr stecken bleibt wie der Karren, den der zerlumpte Lastenträger zieht. Motorrikschas weichen dösenden Kühen aus, Filmmusik aus Bollywood überschallt einen Straßenmarkt, Krüppel schleppen sich von einer Ecke zur anderen. Indien wie es tobt, singt, lacht – und stirbt.

Denn nur wenige Schritte entfernt, am Ganges, lodern die Feuer der Scheiterhaufen, singen Priester ihre Mantras für die Seligen, die hier, am heiligsten aller Flüsse, sterben durften. Direkt daneben waschen sich Tausende frommer Hindupilger im brackigen Wasser ihre Sünden von Leib und Seele, beten Junge, Alte, Kerngesunde und Schwerkranke im Angesicht dieses Ortes tiefster religiöser Verehrung, so unbegreiflich wie faszinierend.

Kein anderes Land auf der Welt bietet schärfere, schmerzhaftere Kontraste, kein anderer Fluss mutet dem Reisenden mehr magische ­Momente zu, mehr Wechselbäder der Gefühle, als der Ganges auf seinem 2600 Kilometer Lauf von den eisigen Höhen des Himalaja zum Delta am Golf von Bengalen. Und keine andere Reiseform stellt sich dieser Herausforderung so direkt und zugleich so behutsam und so sicher wie eine Reise mit einem Flussdampfer, zum Beispiel auf der kürzest möglichen Etappe, sieben Tage zwischen Patna und Kalkutta, der aufregenden, vielfach verkannten Stadt, die heute offiziell Kolkata heißt.

Einstieg in Patna. Vor der Metropole des Bundesstaates Bihar, im Altertum die historische Hauptstadt des mächtigen Maurya-Reiches, liegt die „Rajmahal“ vor Anker. Ein Beiboot, das uns in den nächsten Tagen zu Ausflügen an die lehmigen Ufer bringen wird, tuckert hinüber zum schwimmenden Königspalast, das ist die Bedeutung des Schiffsnamens. Gracy und Song Song, zwei Schwestern aus dem fernen Nagaland, begrüßen die Neuankömmlinge mit einem schüchternen Lächeln und einem frisch ­gepressten Mangosaft.

Kunal Singh, Cruise Director und Chefreiseleiter, stellt am Nachmittag im Salon die Besatzung vor. Knapp 30 gute Geister umsorgen auf dieser Tour gerade mal 20 Passagiere. Von Kapitän Biswajit Sarkar über Abdul Aziz, den Lotsen, bis hin zu den Wäschereijungs Moti und Pappu, strahlen sie Ruhe und Verlässlichkeit aus. Der Salon erinnert an einen anglo-indischen Club aus der Kolonialzeit, wie man ihn vielleicht aus den großen ­Indienfilmen kennt. Er ist, wie alle ­öffentlichen Räume und die Kabinen, mit Sesseln und Rattanstühlen nostalgisch möbliert.

So angenehm das Ambiente, so sympathisch-familiär die Atmosphäre. Dazu passt der legere Dresscode zu allen Tageszeiten. Dieser Stil gefällt dem internationalen Publikum. Kunal Singh – ein Gast nennt ihn Mr. Goo­gle, weil er keine Antwort schuldig bleibt – organisiert mit leiser Stimme und ruhiger Hand die Aktivitäten an Bord und an Land. Zu den Mahl­zeiten im Restaurant, mit Fenstern zu beiden Seiten, finden sich schnell kleine Tischgruppen zusammen, nach Herkunft oder Sprachen besetzt.

Träge fließt der Strom auf seinen letzten 600 Kilometern durch eine braungrüne, auf weite Strecken unspektakuläre Ebene. Es ist ganz sicher ein magischer Fluss. Und es ist ebenso sicher eines der dreckigsten Gewässer der Welt. Noch immer findet man im Internet die Zahl von 100 Millionen Bakterien und Giftstoffe pro Liter Gangeswasser. Die Gläubigen ficht das nicht an, im Gegenteil: Sie wissen genau, dass der heilige Fluss streckenweise eine Kloake ist, aber der göttliche Charakter, so sagen einfache wie gebildete Leute, er sorgt dafür, dass alles gut geht: „Ganga mai ki jai“ – ­gelobt sei die heilige Mutter Ganges, ­singen sie und steigen in und um ­Varanasi bedenkenlos in die braune Brühe.

Oft hindert morgens dichter Nebel das Schiff an der Abfahrt, stundenlang. Aber Nebel schärft die Sinne. Da schälen sich plötzlich am Ufer Frauen mit Lasten auf dem Kopf aus dem Grau, und direkt neben der Bordwand holen sich Delfine für Sekunden die notwendige Luft zum Atmen. Auch akustisch wird der Nebel durchdrungen, von geheimnisvollen Geräuschen aus der Stille, von Tempeltrommeln und, je näher wir dem muslimisch geprägten Land der Bengalen kommen, von den Rufen der Muezzins.

Hier, so sagen manche Gäste, die schon häufiger im Lande waren, hier fühlen sie sich weit weg vom Indien der Reisekataloge, vom Taj Mahal, von den „Rennstrecken“ in Rajasthan, erst recht von dem der Megastädte Delhi oder Mumbai. Wer hat denn zuvor schon von Mokameh oder Monghyr ­gehört, von Sultanganj oder Vikramshila? Orte, die auf keiner gängigen Karte zu finden sind. Begegnungen mit Heiligen, mit Tänzern in Trance, mit ­Fischern und Bauern. Streifzüge durch Dörfer, in denen nicht zu unterscheiden ist, wer hier wen anstaunt, behutsam, kundig und klug geleitet von ­Kumar Singh.

Nachmittags auf dem Sonnendeck. Man döst in Korbstühlen vor sich hin, leiht sich von Zeit zu Zeit von Prabir ein Fernglas aus und schaut Störchen, Reihern oder Eisvögeln hinterher. Prabir ist der Ranger vom Dienst, er kennt jedes Gefieder, jeden Busch. Auch der Fluss lebt: Männer staken Fähren von einem zum anderen Ufer. Kinder winken, Frauen waschen sich und ihre Wäsche, Ochsenkarren rumpeln Dörfern im Irgendwo entgegen. Es ist ein Spektakel der kleinen Dinge.

An Bord gibt es Vorträge, lebhafte Diskussionen und Kochkurse

Abwechslung an Land: Morgens einen Sikh-Tempel besichtigt, die ­farbenprächtige Zeremonie aus dem Hintergrund beobachtet und danach in einer Volksküche, die für Bedürftige aller Glaubensrichtungen offen ist, Pakoras und andere typische Snacks probiert. Zurück an Bord: frischer Guavensaft, lächelnd serviert, und zum Lunch Fisch aus dem Ganges, in Öl gebackene Auberginen, Limonen­joghurt. Und abends plötzlich eine Einladung zum Barbecue auf der Sandbank, neben der wir ankern: Fleisch aus dem mitgebrachten Tandoori-Holzkohleofen, indischer Wein, Vollmond und ein sternenreicher Himmel.

In Bhagalpur, am nächsten Morgen, warten oberhalb vom Fluss Geländewagen, mit denen die Ausflügler im Schritttempo durch das Städtchen fahren. Zeit für Einblicke in den Alltag und in die Historie eines Ortes im Bundesstaat Bihar, der nicht zu den klassischen Rundreisezielen gehört. Ein Herrenhaus aus den Anfängen der britischen Zeit in Indien ist das Ziel, heute Sitz einer Abteilung der Rabindranath Tagore Universität in Kalkutta. Augustus Cleveland hieß der Verwalter des Distrikts, der dieses Haus vor über 200 Jahren erbaut hat. In den Geschichtsbüchern der Engländer wie der Inder wird er als erstes Opfer im Kampf um die Unabhängigkeit von den Kolonialherren geführt.

Kontrastprogramm an Bord: Gestern ein kritisch-aufschlussreicher Vortrag über Politik, Korruption, Kastenwesen, heilige Kühe. Diskussionen, die sich bis in den Abend, bis in die Bar ziehen. Heute ein Kochkursus, bei dem Chefkoch Nantu einige Geheimnisse von Currys und Gewürzen entschleiert, es wird viel gelacht, aber auch engagiert mitgeschnippelt und mitgeschrieben. Am Nachmittag: Wie binde ich sieben Meter Seide zu einem gut sitzenden Sari? Und am Abend tritt eine traditionelle Musikergruppe auf, die sonst durch die Dörfer Nordindiens tingelt, authentisch, anrührend. Sie spielen Harmonika, Zupfinstrumente, Handtrommeln und singen Balladen, die von Göttern und guten Geistern handeln.

Farewell Dinner im moderaten Maharadschastil: ein Dutzend Currys auf dem Buffet, Schälchen mit Würzsoßen, eingerahmt von Kerzen und Blüten. Noch Stunden danach lebhafte Diskussion im Salon, über Indien, seine Zumutungen, seine Wunder. Schlusspunkt am nächsten Vormittag: die Zugfahrt von Farakka nach Kalkutta, den Kopf und den Fotospeicher voller Bilder, im Gepäck mehr Fragen, als es jemals Antworten geben kann.