Doch vor der Reise durch den Sankt-Lorenz-Strom und vier der fünf großen Seen hat der Meeresgott eine Atlantiküberquerung im Radfahrertempo gesetzt

Mittlerweile hat sie New Orleans wieder verlassen. Dort, wo sie Weihnachten war, die „ISA“, ein paar Wochen nachdem ich sie verlassen habe. Doch noch immer verfolge ich ihren Kurs im Internet, weiß, dass sie, ein polnischer Massengutfrachter unter zypriotischer Flagge, jetzt allmählich wieder Kurs auf Europa nimmt. Und ich kann mir vorstellen, wie hinter dem Heck die Sonne sinkt, sie sich sanft rollend durch die Wogen wiegt, während auf der Brücke der zweite Offizier wieder den Stick mit Soulmusik aus den 70er-Jahren in den kleinen Gettoblaster im äußersten rechten Eck schiebt, dann den Radarschirm mustert, sich einen Tee macht und aufs Abendessen wartet.

Für drei Wochen war die „ISA“ mein Schiff. Auf dem Weg von Amsterdam nach Chicago. Genauer: vom Stahlwerk eines indischen Großkonzerns bei ­Ijmuiden unterwegs mit knapp 20.000 Tonnen Stahl für Konservendosen und Autos in den USA, in Cleveland, Chicago und Michigan. 22 Seeleute und fünf Passagiere waren an Bord. Ein Seegang mit meditativem Charakter.

Der hektische Puls unserer Zeit wird zum sanften Wogen. Spätestens nach gut 48 Stunden, als auch das beste Fernglas das englische Land’s End nicht wieder in den Blick rückt und das Smartphone für eine gute Woche zum Digitalmüll wird, während die „ISA“ im Radfahrertempo nach Westen fährt. 600 Kilo Schweröl pro Stunde jagen durch den schwarzen Schornstein mit dem roten Wappen und versetzen die Schiffsschraube in 110 Umdrehungen pro Minute. Das reicht für gut 20 Kilometer pro Stunde.

Der Radarschirm leert sich, der Horizont weitet sich: Wasser und Wolken, Wind und Wellen. Sie wiegen die „ISA“ sanft hin und her. Ist das Wetter gut, sind alle an Deck. Die Mannschaft schmirgelt und streicht das ewig rostende Schiff. Wir Passagiere holen Klappstühle und setzen uns an sonnige, windgeschützte Stellen. Manchmal wird es aufregend: Delfine spielen in der Bugwelle. Ein anderes Schiff kommt in Sicht. Und die Sonne? Sie geht auf, wandert die Backbordseite entlang, geht unter.

Außerdem gibt es Mahlzeiten und Käptn’s Dinner. Fast jeden Tag. ­Genauso wie Käptn’s Mittag und Käptn’s Frühstück. Polnische Küche. Heißt: Futtern wie bei Muttern. Fleisch, Gemüse, Kartoffeln, ein Stück Obst. Morgens Eier nach Wahl, abends kalte Platte – und wenn schon Salat, dann Kartoffelsalat. Aber stilvoll serviert vom Stewart im weißen Hemd. Er ist gerade erst an Bord gekommen, die Besatzung arbeitet vier Monate und hat dann zwei Monate frei, beim Kapitän sind es drei Monate im Job und drei Monate Freizeit.

Er kam etwas früher als geplant zur Ablösung. Die Stimmung war nicht so gut, sagt er. „Wenn du sonst Ärger auf der Arbeit hast, gehst du anschließend zu deiner Familie oder in die Kneipe. Hier geht das nicht.“ Stimmt: Drei Wochen sehen wir alle nur die immer gleichen 26 Gesichter. Deswegen will er für Entspannung sorgen: Am ersten Sonnabend auf See bearbeiten die Männer aus dem Maschinenraum ein leeres Ölfass, flexen, bohren Löcher. Abends kommt Holzkohle hinein, Tische und Bänke werden auf dem Oberdeck zusammengerückt. Koch und Stewart sind da: Grillparty für alle. Oldies, Dosenbier und Berge von Fleisch. Irgendwann fasst sich der Chefingenieur, der nicht wissen darf, dass ihn alle Shrek nennen, ein Herz sowie die Hand der belgischen Passagierin und tanzt mit ihr erstaunlich leichtfüßig. Bis es zu kühl wird. Ein Sturmtief nähert sich.

Über Nacht wird aus dem sanften Rollen ein heftiges Schaukeln, sodass Tischtennis und Kicker als Freizeitvergnügen ausfallen. Der Stahl liegt der „ISA“ schwer im Schiffsbauch. Sie wirft sich hin und her. Bis zu 20 Grad auf jede Seite. Essen mag jetzt nicht mehr jeder und schlafen ist auch schwer. Der Zeitverlust macht dem Kapitän mehr Sorgen als die Bewegungen. Schlimmer ist es, sagt er, wenn sich die „ISA“ mit hoher Geschwindigkeit, also 20 Stundenkilometer, in ein Wellental wirft und die Wand aus Wasser das Schiff brutal bremst. Das Zittern ist auch 160 Meter weiter hinten auf der Brücke zu spüren.

Auch hinter Neufundland packen uns Zehnmeterwellen und heftiger Gegenwind: Mehr als besseres Fußgängertempo bringt die „ISA“ nicht zustande. Aber am nächsten Tag ist endgültig Land in Sicht. Die kanadischen Lotsen kommen an Bord. „Wir haben den besten Job der Welt“, sagen sie. Denn alle an Bord haben gute Laune. Die Crew, die nach einer Woche Wasser vom Sankt-Lorenz-Strom in den Flussarm genommen wird, das Farbspektakel des Indian Summers im besten Licht bestaunen darf. Wir fahren durch die Thousand Islands, wo sich die reichen Ostküstenbewohner ihre Ferienhütten, -häuser und -schlösser auf die Inseln gestellt und zwischendurch das Thousand-Islands-Dressing erfunden haben.

Dann die Niagarafälle, deren Gischt man als weiße Wolke sieht, während das Schiff einen ganzen Tag lang durch acht Schleusen manövriert, eine Hand breiter als das Schiff: Knapp 100 Höhenmeter müssen überwunden werden zum Eriesee. Noch einen Tag bis Cleveland. Dort kommt morgens die Inspektorin der Einwanderungsbehörde an Bord. Visumkontrolle, Stempel in den Pass und dann heißt es: Fertig machen zum Landgang. Vom Hafen zur Innenstadt sind es 500 Meter, ein Spaziergang, aus dem eine Wanderung wird. Aus Freude darüber, mehr als 200 Meter geradeaus gehen zu können. Fünf Tage später geht es noch einmal auf die Seen: Einmal rund um Michigan, dann geradeaus auf Burns Harbor zu. Die Hochhauskulisse von Chicago lässt am Ende keinen Zweifel aufkommen: Das Land hat uns wieder, die Seesucht jedoch wird bleiben.