Christel Grave ist Koordinatorin der nordfriesischen Schutzgebiete des Vereins Jordsand im Norden von Schleswig-Holstein rund um den Hauke-Haien-Koog

Auf der Straße zwischen Hauke-Haien-Koog und der Nordsee verlieren sich ferne Scheinwerfer in der diesigen Unendlichkeit. Es sind Wege in die Einsamkeit an der Küste Nordfrieslands. Links nur Watt und Wasser und rechts ist auch nur Wasser. Und Schilf – das Speicherbecken des Hauke-Haien-Koogs. Christel Grave stoppt den Wagen und nimmt das Fernglas: „Schau, das sind Nonnengänse, die sind jetzt gekommen!“ Die 43-jährige ist Koordinatorin der nordfriesischen Schutzgebiete des Vereins Jordsand zum Schutze der Seevögel und für ihre Betreuungstouren unterwegs in diesem leeren, weiten Land. Man kann sie treffen, wenn sie mit Fernglas und Spektiv Vögel beobachtet, zählt und dokumentiert. Auch im Winter kann man hier nach Vögen Ausschau halten – „die einen ziehen durch, andere kommen, um über den Winter hierzubleiben.“ Zu sehen ist eine erstaunliche Vielfalt.Es ist die Zeit, da die Wintergäste aus der Arktis und dem hohen Norden eintreffen. Wie die Nonnengänse. Mit ihrer schwarzen Haube und dem schwarzen Hals sowie dem schwarzweiß gestreiften Schwingen auf dem sonst schneeweißen Körper erinnern die Vögel tatsächlich an das Aussehen von Nonnen.

Wir fahren am Hafen von Schlüttsiel vorbei und halten erneut. Christel schaut mit dem Fernglas über den Koog, baut das Spektiv auf und stellt scharf. „Dahinten sind Silberreiher“, sagt sie. Das sind die Weißen. Und viele Graureiher; stoisch, staksend. Alpenstrandläufer laufen auf dem Süßwasserwatt und Kiebitze. Es ist, als ob Christel mit der 60-fachen Vergrößerung einen Film gestartet hat.„Siehst Du die Schwäne?“ Höckerschwäne gleiten durchs Bild und Singschwäne „…die erkennst Du auch an ihrem trompetenartigen Gesang. Und der Schwarze, das ist ein Trauerschwan. Eigentlich gehört er hier nicht hin, wohl ein Gefangenschaftsflüchtling.“

Christel Grave, gebürtig aus dem Münsterland, liebt Vögel. Wer die Gegend und ihre tierischen Bewohner mag, hat Glück, sie zu treffen. Denn mit ihrer Leidenschaft für die Landschaft begeistert sie die Gäste: „In Nordfriesland spürt man die Naturgewalten an der Küste viel mehr als im Binnenland. Vor allem in der kalten Jahreszeit, wenn sie sich zu Sturmfluten auftürmen, zeigen sie ihre Kräfte“, sagt sie. Und in dieser herben romantischen Gegend den Winter überleben. Wie diese hier:„An Enten haben wir hier jetzt das volle Programm“, sagt die 43-jährige Landschaftspflegerin. , „wie viele kennst Du?“ Wie viele Enten kenne ich? Ich überlege und weiß es doch nicht, sehe verschiedene Enten durchs Bild gleiten. Christel stellt das Spektiv erneut scharf. „Also; ich sehe hier Spießenten, Krickenten, Pfeifenten, Schnatterenten – und warte – Löffelenten. Die schwimmen Dir jetzt von rechts ins Bild.“ Und dann gründeln sie mit ihrem löffelartigen Schnabel.

Als wir am Ufer des neuen Bongsieler Kanals entlanggehen, riecht es modrig und brackig, Schafe machen lustlos Platz. Der Kanal liegt breit und träge unter der trüben Sonne. Manchmal kann man hier sogar Seeadler beobachten, wie sie eine Gans schlagen. Und das markante „Tjü-Tjü“ stammt vom Rotschenkel, nur nebenbei. Über dem unergründlich dunklen Wasser spannt sich im Osten ein zartrosa Band, als die Herbstsonne zaghaft die niedrigen Wolken beleuchtet. Ein einsames Segelboot liegt auf dem Ufer, ein kleiner Steg führt in den Bongsieler Kanal. Es sind Bilder von eindrücklicher Stille. „Der Hauke-Haien-Koog ist eine künstlich geschaffene Landschaft“, erklärt Christel Grave. Landeinwärts vom Deich liegen die Speicherbecken, dahinter die Schilfgürtel, ostwärts das Grünland und die Äcker der Marschbauern. „Vor nicht viel mehr als einem halben Jahrhundert war das hier Nordsee, war das Watt.“ Dann begann der Küstenschutz, die Deichlinie zu verkürzen und die ehemalige Bucht zwischen Fahretoft im Norden und Ockholm einzudeichen. 1200 Hektar neues Land wurden damit geschaffen, 500 davon bekamen die Bauern und siedelten sich westlich der alten Deichlinie an. „700 Hektar dienen der Binnenlandsentwässerung. Und mit den Wasserbecken kamen auch die Wasser- und Wattvögel. Aus dem nahrungsreichen Watt wurde ein hochwassersicherer Brut-und Rastplatz. Seit 1967 gibt es eine freiwillige Vereinbarung zwischen dem Deich- und Hauptsielverband und dem Verein Jordsand, durch die das Gebiet für die Vögel geschützt ist,ganz ohne Naturschutzgebietsverordnung“, sagt Christel.

Weil die Gefahr von Überflutungen nicht nur seitens der Nordsee drohen, sondern auch landeinwärts, wurden die Speicherbecken angelegt: „Bei Hochwasser und Sturm können diese Flächen mit dem einfließendem Wasser aus dem Hinterland volllaufen, dort ohne Schaden gespeichert werden, bis sie bei Niedrigwasser in die Nordsee ablaufen können. So entwickelte sich im Laufe der Jahrzehnte eine amphibische Welt aus Seen, Kanälen und Schilfgürteln“, erklärt Christel Grave. So entstand das Vogelparadies Hauke-Haien-Koog. Wir stehen am nördlichen Speicherbecken, ein seltener Tourist kommt vorbei. Sie lässt ihn selbstverständlich durch das Spektiv blicken.

Die Route führt ins Binnenland und bald folgt die Straße erneut einem Deich. Es ist die alte Linie, vor dem Bau des endgültigen Seedeiches war dies das letzte Bollwerk gegen die Nordsee. Nun liegt es hier dreieinhalb Kilometer landeinwärts und zieht durch Bauernland. Die neuen Höfe ducken sich unter einem weiten, leeren Himmel. Der Wind weht die Rufe von Dohlen und Bekassinen vorüber und zwölf dünne Glockenschläge aus dem fernen Fahretoft. Auch hier steht ein Siel, das alte, und der Bongsieler Kanal hat einen eigentümlichen, starken Sog. Es ist Niedrigwasser und die Schleuse bei Schlüttsiel ist offen. Das Wasser aus dem Binnenland läuft ab und in weniger als sieben Stunden staut es sich wieder im Koog. „Dann kommen auch die Vögel aus dem Watt wieder in den Koog zurück“, erklärt Christel, „gerade bei Hochwasser kann man Austernfischer, Brachvögel und Brandgänse gut beobachten.“

Es geht zurück nach Süden, und ostwärts der alten Deichlinie stehen Reetdachhäuser auf Warften weit im Hinterland – es ist Ockholm. Das alte Ockholm, Heimat früher Marschbauern, ging in der zweiten Marcellusflut 1362mitsamt der gesamten Beltringhardeunter. Was blieb, war die Hallig Ockholm, die in der Nordsee stand wie die zehn heutigen Halligen draußen in der Nordsee. 16 Warften verzeichneten die Bücher des Schleswiger Bischofs im 15. Jahrhundert. Obwohl die Bewohner ihre Insel (Holm bedeutet Insel) mit einem Deich schützten, ging Ockholm in der Burchardiflut von 1634 erneut unter. Inzwischen haben wir das südliche Becken erreicht und sehen Nilgänse. „Die große Vielfalt des Spätsommers ist schon lange vorbei, aber noch sind einige Durchzügler im Gebiet zu entdecken. Die einen ziehen bald weiter Richtung Süden, andere bleiben, bis das Wetter kälter wird und ihre Nahrung knapp“, erklärt Christel. Und gleichzeitig sind schon zahlreiche Wintergäste angekommen „… die meist während des gesamten Winters hier noch ausreichend Futter finden. Jede Art hat ihre eigene Überlebensstrategie. Mehr Informationen dazu gibt es unter www.jordsand.de., entscheidend für „Bleiben oder Ziehen“ ist immer die Nahrung. “

Weitere Info: www.jordsand.de

-Im Hafen Schlüttsiel gibt es das kleine Infozentrum „Watt´n Blick“, das über den Hauke-Haien-Koog und den Nationalpark Wattenmeer informiert. Das Gebäude ist täglich von 8-20 Uhr geöffnet (im Winter unbetreut). Öffentliche Führungen finden im Winter nicht statt, der Verein Jordsand bietet bei Interesse gerne eine individuelle Führung an (Tel. 0 46 74 - 848)

-Der Koog kann auf festgelegten Routen umfahren werden.

-Die besten Beobachtungsmöglichkeiten bieten sich entlang der Straße Ockholm – Schlüttsiel - Dagebüll

-Der Bestand an Vogelarten ist vom Fortschritt der Jahreszeit und den Eisverhältnissen auf dem Wasser des Koogs abhängig