Ein Nachmittag im Teesalon des Hotels Pera Palace, weit weg vom Lärm der 14-Millionen-Metropole Istanbul. Ambiente und Publikum wirken, als habe sich in diesem opulenten Raum, der seinen Namen Kubbeli den in die Holzdecke eingelassenen Kuppeln verdankt, das alte Konstantinopel oder doch wenigstens das Istanbul der Zwischenkriegszeit zum High Tea versammelt, von Hollywood arrangiert. Elegante, gut behütete Damen - Türkinnen, Französinnen, wer weiß das schon ? und Gentlemen im Zweireiher mit Einstecktuch, die den ersten Gin Tonic des Tages schlürfen. Jüngere Müßiggänger vom hierzulande ausgestorbenen Typ Dandy. Ein paar Touristen auf der Suche nach der verlorenen Zeit.

Das ist die Stunde des İlham Gencer. Sein Auftritt macht aus dem orientalisch-trägen Dämmerschoppen eine Show, wie sie auch ins Berlin oder Paris der 20er-Jahre gepasst hätte. Kaum hat er das schwarze Piano in der Ecke des Salons geöffnet, perlen auch schon die ersten Jazztöne ins stilvoll-dekadente Kabinett, lassen gleich darauf Klänge wie „Bésame Mucho“ oder „The Girl From Ipanema“ die Füße wippen, und der Mann am Klavier, ein grau melierter Herr der leichten Muse, zieht alle ­Blicke auf sich.

Mit seiner Musik prägt der Großmeister des Jazz und Pop den Stil des Hauses

Es ist, um diese Zeit jedenfalls, eher sanfte Lounge-Musik, mit der Bay Gencer, als den sie ihn hier und in der ganzen Stadt kennen, Stimmung macht. Etwas später wird er zum Swing übergehen, zum Blues, zum Ragtime: İlham Gencer, ein Virtuose der klassischen Barmusik, ein Großmeister aller Jazz- und Poptöne, mit denen sich durch die Jahrzehnte und über die Kontinente träumen lässt. Darüber hinaus ist er ein Original, ein Charakter, der den Stil dieses Hauses und dieser einmaligen Stadtprägt, und das im Alter von 90 Jahren, die man ihm nicht ansieht und nicht abnehmen mag. Das hört er nur zu gern und spornt ihn in den Pausen zu Erinnerungen an, an die Zeit, als der Orient-Express noch von Paris durch Europa und über den Balkan bis an den Bosporus dampfte. Dieser legendäre Zug, durch Filme, Bücher und Nostalgie-Reisen künstlich am Leben erhalten, stand am Anfang des Hotels Pera Palace. Die Compagnie Internationale des Wagons-Lits ließ es 1892 bauen, ­damit ihre Passagiere auch in der damaligen Hauptstadt des Osmanischen Reiches standesgemäß logieren konnten. 1895 wurde es eröffnet und schon bald zum glanzvollen Zentrum jenes europäischen Quartiers von Konstantinopel, dasdamals Pera hieß und Teil des ­Szeneviertels Beyoglu geworden ist.

Geschichte, sagt man, habe keinen Anfang; Geschichten aber sehr wohl, vor allem, wenn sie von so vitalen Zeitzeugen erzählt werden wie es Ilham Gencer einer ist.Als İlham Gencer im August 1925 geboren wurde, hatte Mustafa Kemal zwei Jahre zuvor die Republik Türkei ausgerufen. Die Pläne dazu hatte Atatürk, Vater der Türken, wie er bald darauf in aller Welt genannt wurde, im Hotel Pera Palace ausgearbeitet, in einer Suite, die heute ein kleines Museum ist. Ein anderes, nicht minder berühmtes Zimmer, die Nummer 411, ist oft auf Wochen im voraus gebucht. Dort steht, neben dem Kingsize-Bett, noch immer die Schreibmaschine, auf der Agatha Christie ihren 14. Krimi geschrieben hat, den „Mord im Orient-Express“, der nicht zuletzt durch die Verfilmung mit Albert Finney als Hercule Poirot sowie Sean Connery und Ingrid Bergmann unsterblich geworden ist. İlham Gencer beugt sich verschwörerisch zum Gast: „Madame Christie hat seinerzeit nicht nur lange bei uns gewohnt, sie war zwischendurch auch mal ein paar Tage spurlos verschwunden. Man munkelt so ­manches über diese selbstgewählte kleine Flucht.“ Der Zuhörer ist Deutscher? Da muss İlham doch gleich die Geschichte vom Treffen mit dem ehemaligen Außen- und Innenminister anhängen, dessen Name sich zwar ­anders schreibt, aber ausgesprochen wird wie seiner., „ein netter Mann.“

Rosamunde habe sich der Politiker damals von ihm gewünscht. In München war das, im Marriott Hotel, nach einem Konzert. Oder doch in Istanbul, im Pera Palace...? Egal, der Minister war ja, wie Ilham Gencer weiß, nicht selten an mehreren Orten gleichzeitig. Er jedenfallsDer Pianist ist viel herumgekommen, hat komponiert und ist in großen Städten Europas aufgetreten. In Ayten Alpman hatte er eine kongeniale Frau gefunden, 60 Jahre lang war er mit der beliebtesten Sängerin des Landes verheiratet, die noch immer als Ikone des Türk-Pop verehrt wird. Nach ihrem Tod im April 2012 dauerte es lange, bis ihn die Musik, die sie beide so geliebt haben, wieder trösten konnte. Seine beiden Söhne, auch Musiker, ­haben ihm schließlich zugerufen, was seine Stammgäste seit Jahren von ihm fordern, wenn er eigentlich nicht noch einmal die Titelmelodie aus „Casablanca“ spielen will: „Play it again, İlham ...“