Seit 1977 ist es gute Sitte, dass die Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden im Dezember das „Wort des Jahres“ kürt. Es wird ausgewählt aus einer Reihe von Begriffen, die „die Diskussion bestimmt haben und für wichtige Themen stehen“.

Parallel dazu hat auch in diesem Jahr wieder eine heimlich tagende
Jury das „Touristische Wort des Jahres“ bestimmt.

An dritter Stelle, so die Wissenschaftler, die anonym bleiben wollen, rangiere der Begriff „Ressourcen­management“. Gemeint sei damit die Kunst der Reiseindustrie, aus immer weniger Welt immer mehr Tourismus zu schöpfen. Alles schwinde: Korallenriffe, Gletscher, sauberes Meer, sichere Städte, besucherfreundliche Völker, gutes Wetter – und trotzdem wachse die Zahl der Reisenden weiterhin stetig. Dieses verblüffende Phänomen gelte es endlich zu würdigen.

Über den zweiten Rang waren die Experten sich lange uneins. „Reputationsmonitoring“, „Lead Conversion“, „Customer Journey“ oder „Content Strategy“ – schließlich stünden mehr­ere bildgewaltige Neuschöpfungen für die kreative Wucht und die wuchtige Kreativität des Tourismusmarketing. Letztendlich aber habe man sich auf „Story Telling“ geeinigt. Kein anderes Label fasse die hehre Aufgabe dieses Industriezweigs schmissiger zusammen. Schließlich gehe es immer nur um das eine: den Kunden einen vom Pferd zu erzählen.

Touristisches Leitwort des Jahres 2015 aber wurde ein nicht ganz neuer Begriff, der es derzeit wieder zu höchsten Ehren bringe: „SLC – Self-loading Cargo“. Die sich selbst ladende Last stehe für das anerkennenswerte Bemühen der Fluggesellschaften, aus pas­sivem Passagierstückgut aktive Teilnehmer zu formen. Bis 2020 sollen 80 Prozent aller Fluggäste so weit geschult sein, dass sie selbstständig ihre Bordkarte ausdrucken, ihr Gepäck aufs Band legen, es mit Anhänger versehen und sich abschließend ganz selbst und eventuell gegenseitig auf Waffen und Flüssigkeiten kontrollieren. Und wie sie anschließend auch noch daran mitarbeiten könnten, dass das Flugzeug sich in der Luft halte, daran werde derzeit eifrig geforscht.

BERND SCHILLER

Eigentlich wollten wir so früh wie möglich am größten Hinduheiligtum Südostasiens eintreffen. Wir wussten ja um die schwülfeuchte Hitze, die spätestens nach zehn den Weg durch das Revier der großen Götter Shiva, Vishnu und Brahma schwer erträglich machen würde. Also waren wir gleich nach Sonnenaufgang in Yogyakarta gestartet. Weil Prambanan, Weltkulturerbe wie der benachbarte Zauberberg Borobudur, auf direktem Wege nur 14 Kilometer entfernt ist, hatten wir eine Route über die Dörfer eingeplant. In aller Ruhe aus dem indonesischen Alltag in die Mythenwelt der altindischen Religionen zu wechseln, das war die Idee. Und dann war der Weg, ungeplant und zum Glück, doch wieder selbst zum Ziel geworden.

Ich weiß den Namen der Dörfer nicht mehr, die uns für Stunden den Grund unseres frühen Aufbruchs vergessen ließen. Vielleicht haben wir auch nicht danach gefragt. Spontan hatten uns in der frischen Luft des Morgens Gerüche, Stimmen und der Lärm alter Maschinen in dunkle Werkstätten und Hinterhöfe gelockt. Gleich im ersten Ort dampfte und zischte es aus einer Tofu-Fabrik. Der wohl wichtigste Bestandteil einer jeden javanischen Mahlzeit wurde hier auf eine Weise hergestellt, die uns nur auf den ersten Blick vorsintflutlich erschien.

Es war, wie wir schnell merkten, Handwerkskunst im besten Sinne; nicht anders werden vor hundert Jahren die Sojabohnen gewässert worden sein. Und auch der Mörser-Mechanismus wird damals nicht langsamer funktioniert haben: eine raffinierte Spindel-Rolle-Konstruktion, die einen beweglichen Stein zum Rotieren bringt. Der Brei, der dabei entsteht, wird gekocht, durch ein Tuch gedrückt und mit Essig versetzt. Der lässt die weiße Masse besser gerinnen, die danach, in Portionen geteilt, auf einem Bambusgestellt in der Sonne trocknet.

Während wir dem Prozess gebannt zuschauten, trafen Kleinhändler ein, die das fertige Produkt, das in der letzten Phase noch frittiert worden war, auf Karren oder in Dokars, den typischen zweirädrigen Pferdekutschen der Region, abholten. In Dörfern, die auf anderes spezialisiert sind, etwa auf die Herstellung von Glasnudeln oder Tontöpfen, würden sie das proteinreiche Grundnahrsungsmittel in den nächsten Stunden zum Verkauf ausrufen. Tofu ist leicht verderbliche Waren, aber weil es für die Javaner mindestens so bedeutend ist wie für uns die Kartoffel, wird so ein Karren voller Tofuquark oder Tofukuchen an einem Vormittag leer.

Vor einer Hütte aus Bambus und Palmblättern hockt eine alte Frau und poliert eine braune Schale, die sie eben von der Töpferscheibe genommen hat. Langsam treten wir näher, unser indonesischer Begleiter fragt nach dem Befinden, und die Dame fordert uns freundlich-lächelnd auf, neben ihr Platz zu nehmen. Ayu heißt sie, 85 Jahre alt,übersetzt unser Freund aus Yogya, zehn Kinder hat sie geboren, sechs sind noch am Leben, wohnen ein paar Hütten weiter im Dorf. Alles haben sie Töpfer geheiratet oder sind Töpfer geworden wie der Vater, der vor ein paar Jahren gestorben ist. Sorgen, so sagt sie, müsse sie sich nicht machen, die Kinder schauen täglich mehrmals nach ihr, bringen Früchte mit, Tofukuchen oder auch nur den Dorfklatsch.

Momentaufnahmen eines arbeitsreichen, bescheidenen Lebens. Jeden Morgen kurz nach acht geht Ayu über den Markt, kauft eine Handvoll Gemüse ein und Maniokwurzeln, aus denen sie Tapiokamehl macht. Danach trinkt sie Tee, sammelt die Eier der eigenen Hühner ein und schaut nach dem Reis, der auf einem schmalen Feld hinter ihrem Häuschen reift. Noch hat sie die Kraft, ihn selber zu schneiden und später die Setzlinge in den feuchten Boden zu drücken.

Nie hat es Ayu in die Ferne gezogen, nicht einmal auf Yogya, die große Stadt in fast unmittelbarer Nachbarschaft, war sie neugierig. Aber immer geht sie, die fromme Muslima, alle paar Wochen auf den Borobudur, um, ja wirklich: die vielen Buddhas dort zu besuchen; einen Widerspruch kann sie darin nicht erkennen. Es tue ihr gut, dort oben zu sitzen, die frische Luft einzuatmen und auf das grüne Land zu blicken, das ihr alles gibt, was sie zum täglichen Leben und für ihren Seelenfrieden braucht.

Ein Dutzend Enkel haben ihr die Kinder geschenkt, und die sind fast alle ausgeflogen, haben Jobs in Hotels der Umgebung gefunden, zwei arbeiten in Tabakfabriken von Yogya, einer ist Gärtner an den Hindu-Tempeln von Prambanan, dem zweiten Weltwunder in der Region nach dem deutlich berühmteren Zauberberg des Buddha. Adna heiße der junge Mann, ihr ganzer Stolz, weil sie doch selber Bäume und Blumen über alles liebt; unbedingt sollten ihn von ihr grüßen, wenn wir nachher zum großen Shiva-Tempel fahren würden.

Der Borobudur: ein heiliger Bilderbogen, ein steinernes Mandala, das den irdischen Lauf des Lebens und der Leiden mit dem Kosmos verbindet. Aus der Distanz wirkt der Hügel nicht einmal besonders eindrucksvoll, eine Erhebung, knapp vierzig Meter hoch, aus der einige Spitzen ragen. Und doch verdient es dieser Berg, aus der Nähe betrachtet und erst recht, wenn man ihn denn bestiegen hat, mit den Pyramiden und Angkor Wat, mit Machu Picchu, dem Taj Mahal und den großen Kathedralen des Abendlandes in einem Atemzug genannt zu werden. Es sind nicht die Dimensionen, es ist nicht die Vielzahl seiner Figuren und Bildwerke, es ist die Faszination, der sich kaum jemand entziehen kann und will, der einmal im Angesicht der vielen Statuen des Erleuchteten die Sonne von hier oben hat auf- oder untergehen sehen.

Der Prambanan hingegen, nur ein paar Kilometer entfernt: ein gewaltiges Hindu-Epos, in hunderten kleiner und großer Göttertürme auf poetische Weise und für die Ewigkeit erzählt. Die drei schönsten und mächtigsten sind der Trimurti geweiht, dem Göttertrio Shiva, Vishnu und Brahma. Allesamt stammen die Monumente aus der gleichen Epoche wie Buddhas überragender Berg, um 800 herum wurden sie gebaut. Es wird wohl für immer ein Rätsel bleiben, wie innerhalb weniger Jahre in so knapper Distanz zwei so gewaltige Tempelanlagen entstehen konnten. Auch wie viele indische Götterburgen rund um den Prambanan noch unter Vulkanasche und Schlammschichten liegen, von Ausbrüchen des nahen Merapi begraben, wissen allenfalls die Götter; die Fachleute sind nur auf Schätzungen angewiesen.

Aus dem javanischen Alltag, den ein vorwiegend gemäßigter Islam prägt, sind beide Religionen längst verschwunden. Und doch mögen gerade aus heutiger Sicht die Götterburgen Prambanan und Borobodur als Beispiele dienen, wie sehr sich einst auf der Insel Java die großen Philosophien aus Indien gegenseitig befruchtet und nachhaltig gewirkt haben, weit über das Vordringen des Islam hinaus. Nebenan auf Bali, der Trauminsel so vieler Künstler und Reisender, hat sich immerhin der Hinduismus erhalten, wenn auch eigenständig und in ganz anderer Form als in Indien. Nicht zuletzt diese fantastische, berührende und in der Welt einmalige Verknüpfung von Religion, Alltag und Lebenslauf hat aus der kleinen Nachbarinsel ein Refugium gemacht, das so oft wie kein anderes mit dem Paradies verglichen wird.

Fast fünfzig Meter ragt Shivas Candi, wie hier die Tempel genannt werden, aus dem wuchtigen Komplex von Prambanan. Er wird in Größe und Schönheit der Bedeutung des Gottes gerecht, der für das Prinzip einer Zerstörung steht, die immer wieder den Neubeginn generiert, einen Kreislauf, für den Shiva Nataraj steht, der tanzende Shiva, der die Welt in Schwung hält. Lingams, männliche Potenzsymbole, rahmen den Candi ein, auch Nandi der steinerne Stier, Reittier des großen Shiva, hält Wache, ebenso mehrere wunderschön gemeisselte Ganeshas, Statuen des elefantenköpfigen, in ganz Südostasien verehrten Gottes.

Dieser Sohn von Shiva und seiner Göttergattin Parvati gilt überall zwischen Bombay und Bali als Glück verheißender Überwinder jeglicher Hindernisse. Das Erdbeben allerdings, das um Mitte des 16. Jahrhunderts den Prambanan zerstörte, hat er nicht verhindern können. Erst 1918 begann der Wiederaufbau, der offiziell 1953 einen vorläufigen Abschluss fand. Aber noch nie hat seither jemand die großen Candis ohne Gerüst gesehen. Zuletzt hat 2006 ein Erdbeben den Sisyphus-Charakter ihrer Arbeit bestätigt.

Die meisten der über 200 Handwerker, die hier nach den Vorgaben der Restauratoren arbeiten, stammen aus neuen Siedlungen der Umgebung. Ihr Dorf hatte vor über vierzig Jahren dem großen Park weichen müssen, der jetzt von einem Heer fleißiger Gärtner gepflegt wird: weitläufige Anlagen mit Lotusteichen, Palmenhainen und Alleen, gesäumt von arabischem Jasmin und Canna, der rot blühenden indischen Rohrblume. Rehe, zum Streicheln zahm, ziehen äsend durch die Gärten, auch ein Schäfer treibt seine Herde gemächlich voran.

Stunden später, im gedimmten Licht des Nachmittags, fragen wir nach Adna, und tatsächlich treffen wir Ayus Enkel Nummer vier, wie er Blätter und duftende Blüten unter hohen Mango- und ausladenden Frangipani-Bäumen zusammenfegt. Liebevoll und geduldig macht er das, und er freut sich, als wir ihm vom Gespräch mit seiner Großmutter erzählen. Mitte zwanzig ist er und seit kurzem verheiratet mit einer jungen Frau aus einer der Töpferfamilien in Ayus Dorf. Bald, so verrät er stolz, werde er die alte Dame zur Urgroßmutter machen. Als ob es arrangiert gewesen ist, perlen in diesem Moment sanfte Gamelanklänge aus einem Lautsprecher, der ein paar Meter weiter in einer Kokospalme hängt.