Im Tiefschnee am Ghost Peak: Ein Zentrum des Heliskiing ist die unberührte Bergwelt rund um Revelstoke in British Columbia.

Der Abend vor dem großen Tag ist voller Anspannung. Unterwegs mit erfahrenen Tiefschneefahrern – mit Spezialisten, die 80 Tage im Jahr auf Skiern stehen. Und selbst? Pistenerfahrung ist da, aber Tiefschnee ist Neuland. Genauso wie die Bretter, die an diesem Abend im Skidepot des Hillcrest Hotels in Revelstoke verteilt werden. Länger, breiter, schwerer – „Fat Boys“, 13 Zentimeter breit, knapp 15 Zentimeter länger als ich selbst, aufgebogen an den beiden Skienden. „Das sorgt dafür, dass du im Schnee mehr Auftrieb hast“, erklärt mir Ralf, einer meiner Mitfahrer. Nun gut, es wird schon passen. Und was, wenn nicht? Was, wenn ich nicht mithalten kann? Bei einer Abfahrt zurückfalle? Eine Lawine lostrete? Von einer losgetretenen Lawine überrollt werde?Oder mich gar in einem sogenannten Snow Ghost verheddere, einer der völlig eingeschneiten Tannen auf den Freeride-Abfahrten, die ich auf Fotos so toll finde? Jetzt, kurz davor, selbst durch sie durchzufahren, wären mir Slalomstangen eigentlich lieber. Die knicken um, wenn man dagegen fährt. Die Snow Ghosts nicht. Die bleiben stehen. Die Nacht wird kurz, die Zweifel wachsen.

Am Morgen begrüßen uns Quinn und Angus, die beiden Guides für unseren Ausflug in die Berge der „Welt-Heliski-Kapitale“ Revelstoke mit seinen 200.000 Hektar Tiefschneehängen. Welt-Heliski-Kapitale – ein respekteinflößendes Wort, kreiert von der mindestens genauso Respekt einflößenden New York Times. Doch bei allem Respekt wird eines schnell klar:„Safety first“ lautet die Devise des Tages. Die Sicherheit der Gruppe hat für Quinn und Angus oberste Priorität – schon bei der Wahl des Abfahrtsreviers. „Wir fahren nur da, wo wir sicher sein können, dass Wetter und Schneelage stabil sind.Sonst habt Ihr keinen Spaß – und wir auch nicht.“ Aufatmen! Es folgt die Sicherheitsbelehrung. Jeder erhält einen Survival-Rucksack mit Airbag, Klappschaufel und Sonde. Dann der Praxistest: ein Schneefeld, Quinn vergräbt einen der Pieper, die wir alle am Körper tragen. Wir stellen unsere Pieper auf Suchen und stapfen los, das Signal des vergrabenen Gerätes immer im Display. Im Notfall zählt jede Sekunde.

45 Minuten suchen und graben, dann kommt der Auftritt von Gilbert. Erst nur ein Knattern am grauen Himmel, dann senkt sich der Bell-205-Helikopter langsam in den Schnee. Der Pilot steigt aus. „Okay, Leute, ihr steht kurz vor dem größten Skierlebnis, was ihr je hattet. Aber vorher muss ich euch erklären, wie ihr euch verhaltet, wenn ich nachher am Berg starte und lande.“ Nach wenigen Minuten ist uns klar: Der Heli sinkt trotz breiterer Kufen im lockeren Tiefschnee ein, daher Kopf einziehen beim Aussteigen und zügig aus dem Gefahrenbereich der Rotorblätter. Und vor der Landung runter in den Schnee: hinknien, Hände vors Gesicht gegen den aufstäubenden Schnee und warten, bis einer der Guides das Okay zum Einsteigen gibt.

Einsteigen, Abflug! Kaum Platz auf der harten Sitzbank. Knatternd zieht Gilbert den Heli nach oben. Ziel ist der Ghost Peak. Richtung Ghost Peak– und überschreitet den Point of no Return. Kein Zurück mehr, und dann das Unfassbare: Beim Durchstoßen der Wolken, wo der blaue Himmel und die schneebedeckte Bergwelt sichtbar werden, weicht die Skepsis der Vorfreude. Endorphine satt beim ersten Tiefschneekontakt. Ghost Peak – das erste Mal. Oh Mann! Quinn räumt die Skier aus dem Transportkorb des Helikopters. Gilbert verschwindet am Horizont. Was bleibt, ist Stille, Staunen und Strahlen.

„Okay, guys – let’s rock“, unterbricht Quinn die Traumphase. Der Pieper am Körper steht auf Senden, die Skier werden angeschnallt. Quinn zieht die äußerste Spur. Und los geht’s! Ein kleiner Hügel, eine einfach zu fahrende, blaue Piste, wenn es eine Piste wäre. Doch das ist Tiefschnee und keine Piste. Es ist keine Spur zu sehen außer der eigenen, die jeder nach und nach in den unberührten Schnee zieht. Das Fahrgefühl ist grandios! So leicht, so weich, nicht wirklich schnell. Der Wunsch entsteht, sich seitlings in die Unmenge an „fluffy powder“ zu werfen, die diese Welt hier oben im Herzen der Rocky Mountains so einzigartig macht. Bei so manchem geht das mit dem Fallen schneller als erhofft! Menschliche Schneegeister, die sich aus dem Tiefschnee schütteln.

Zum Schluss die Fahrt durch die Snow Ghosts, die tief verschneiten Tannen

Zweimal kehrt Gilbert zurück, um uns an festen Anlaufpunkten wieder einzusammeln und auf anderen Bergkuppen wieder abzusetzen. Das Dauergrinsen in den Gesichtern ist uns mittlerweile ins Gesicht gemeißelt. Wie hatte Gilbert noch gesagt – „kurz vor dem größten Erlebnis, das ihr je hattet …“ Der Mann hält seine Versprechen. Nun verspricht er das Mittagessen. Catering im Tiefschnee – wer kann da schon Nein sagen? Doch bis es so weit ist, steht noch der „Ghost Drimmie“ an. Und da sind sie nun, die besagten Snow Ghosts – eng an eng, manche jung, klein und schmächtig, andere stattlich erwachsen und alle im dicken, weißen Schneemantel.

Es wird noch einmal anstrengend vor dem Lunch, auch die Erfahrenen in der Gruppe fühlen sich herausgefordert. Navigieren durch den Zauberwald, herum um die „Tree Holes“, in die niemand gerne hineinfährt, weil man aus den tief liegenden Wurzellöchern nur schwer wieder herauskommt. Dann ist es geschafft! Eine Lichtung, die kleine rote Fahne, die den Landepunkt des Helikopters markiert. Alle warten auf Gilbert, der wärmende Hühnersuppe, heißen Tee und leckere Schokomuffins einfliegt, die uns den Nachtisch versüßen.

Nach exakt 45 Minuten Mittagspause macht sich der Tiefschneeabfahrtsentzug allmählich bemerkbar. Es geht zurück in den Heli und auf zum nächsten Ritt. Die Abfahrt wird zum puren Genusserlebnis – einmal flach, dann wieder steiler. Und immer vor einem beeindruckenden Panorama! Die bizarren Snow Ghosts, die der Eiswind im gebogenen Zustand konserviert und mit Schnee bepudert hat. Vor einem die majestätische Bergwelt – und schließlich der Blick auf die breite, unberührte Tiefschneeabfahrt vor uns, die nun in der hochstehenden Nachmittagssonne glitzert und eigentlich viel zu schade ist, sie mit einer frischen Fat-Boy-Spur zu durchkreuzen. Es ist ein Panorama zum Einrahmen – ein Panorama , das zum Dableiben einlädt.

Am Ende der Abfahrt wartet bereits Gilbert mit seinem Bell 205. Die Ghost Mine Site – eine letzte Zugabe noch, bevor das Tageslicht in den Bergen rund um Revelstoke langsam, aber sicher zu schwinden beginnt. Erschöpft, aber glücklich werden die Skier zum letzten Mal abgeschnallt. Die Bank im Helikopter ist hart, der Platz eng. Doch beim Flug zurück stört das irgendwie keinen. „Schaut mal, Pistenabfahrer!“ – der Satz wird zum Running Gag beim Flug über das Skigebiet von Revelstoke.

Seit spätestens heute ist jedem im Heli klar, dass ein Winter ohne Tiefschneeskifahren zwar möglich, aber sinnlos ist. Die Angst des Vortags ist verflogen, bei einem großen Bier endet der Tiefschneetag an der Bar im Hillcrest Hotel. Dann wartet die heiße Badewanne im Zimmer, und die Traumwelt für die folgende Nacht formiert sich: Knatternde Rotorblätter, Fat Boys unter den Füßen und Berge mit unberührtem Tiefschnee in einer traumhaften Landschaft. Die Welt-Heliski-Kapitale hat ihr Bestes gegeben.