Den Charme zerfallener Schlösser und Kirchen in Schottland zu entdecken, ist ein Erlebnis für Ruinen-Fans mit Sinn für Spleens.

Falkner Andy Hughes weiß, was Mäuse denken und weiht sein Publikum anschaulich in die Nagetiermentalität ein. Wer erst losläuft, wenn der Flügelschlag des Habichts schon zu hören ist, endet wie das Demonstrationsobjekt, das Andys Greifvogel gerade mit einem Happs verschlingt. „In der Natur entscheiden vier Sekunden über ein Leben“, erklärt Andy. „Und in meiner Show entscheiden vier Sekunden, ob alle Zuschauer schnell genug die Köpfe einziehen, um nicht so zu enden wie ich.“ Bei diesen Worten zieht er seine Kappe vom völlig kahlen Kopf.

Für Schotten sind Deutsche komisch. Ist das nicht eigentlich umgekehrt?

Wer der Falknerdarbietung im Garten von Dunrobin Castle bis zum Schluss zuschaut, riskiert, die geführten Rundgänge durch das Schloss zu verpassen. Kein Zuschauer möchte Andys Eulen, Falken und Adler zu früh gegen Kronleuchter, Seidentapete und Bärenfellsammlung tauschen, außer einer Reisegruppe aus Deutschland, die zur Schlossbesichtigung eilt. „They are funny, the Germans“, raunt eine schottische Besucherin ihrer Freundin zu. Deutsche sind komisch? Schotten halten den Dudelsack allen Ernstes für ein Musikinstrument und Röcke für eine angemessene Kleidung für o-beinige Männer.

Sie hängen puppenstubengroße Heizkörper in riesige Räume, fahren auf der falschen Seite, nehmen bei 15 Grad in Unterwäsche ein Sonnenbad, wählten sich ausgerechnet die stachelige Distel als National­blume und sind die Erfinder des frittierten Schokoriegels (deep-fried mars bar) – und ihre Habichte, Adler und Eulen nennen sie Bonsai, Brombeerstrauch und Ulme. Falkner Andy wählt als Namensgeber nämlich stets die Gewächse, auf denen seine Jungvögel nach ihrem aller­ersten Flug landeten. Und Schotten glauben also, Deutsche wären komisch.

Seit mehr als 700 Jahren ist Dunrobin Castle der Stammsitz der Dukes of Sutherland, und in dieser Zeit sind viele Uniformen, Waffen, Tropenholzmöbel, Eisbärfelle und Fotos der Familie – mal mit, mal ohne Queen – zusammengekommen. Besucher schlurfen durch holzgetäfelte Säle und werden schon in wenigen Tagen nicht mehr wissen, in welchem Castle sich die schönsten Deckenmalereien ganz Schottlands befinden, wo die große Porzellansammlung präsentiert wurde oder die Jagdwaffen des Hausherren.

Dudelsackspieler im Karorock gehören zur schottischen Tradition
Dudelsackspieler im Karorock gehören zur schottischen Tradition © picture alliance | picture alliance

Schlösser sind gemacht für bewundernde Blicke aus der Distanz – oder für Filmaufnahmen. Größe und Erhabenheit der neugotischen Fassade machte Inveraray Castle zum perfekten Drehort für die Fernsehserie „Downton Abbey“. Das meistfotografierte Schloss Schottlands – Eilean Donan Castle – wacht auf einer kleinen Insel an der Mündung des Loch Duich und half, den Highlander und James Bond stilvoll in Szene zu setzen. Und Dunrobin Castle, die Heimat von Andys Greifvögeln, hockt wie von Walt Disney gezeichnet mit Türmchen und Erkern am Rande einer Klippe über dem Moray Firth, einer großen Bucht an der Ostküste Schottlands.

„Schöner als unsere Schlösser sind nur unsere Ruinen“, bemerkt die schottische Dame, die eben noch Deutsche so seltsam fand. Seen, Berge, Schlösser und Whisky – all das macht Schottlandreisende glücklich, aber Ruinen? Die stecken doch wie Zahnstümpfe in der Landschaft und deprimieren den Betrachter als Zeichen von Zerstörung, Niedergang und Geldmangel.

Eine Ausnahme ist vielleicht das am Loch Ness gelegene Urquhart Castle. Wenn ein schimmelgrauer Nebelvorhang sich gar nicht mehr öffnen will, die Luft schwer ist von Nässe und die Fantasie der milchig-langweiligen Lache des Sees kein Ungeheuer zutraut, dann rettet die Schlossruine den mystischen Ruf von Loch Ness. Die Reste ihrer Rundtürme, Gräben und Burghöfe sind direkte Verbindungen in die Vergangenheit, als der keltische Edelmann Conachar Mòr Mac Aoidh sich Urquhart Castle von den High­land-Hexen herbeizaubern ließ.

Eine weitere, wirklich alles andere als deprimierende Ruine ist Dunnottar Castle bei Stonehaven. Als sei sie direkt dem Meer entstiegen und gewähre nun Audienz auf einer Felsenklippe, rund 50 Meter über der Nordsee. Zu erreichen sind die spektakulären Schlossreste nur über einen dünnen Felsvorsprung, der zuerst einen kniffeligen Abstieg und dann einen weit steileren Aufstieg erfordert. Weil Dunnottar Castle aufgrund seiner Lage als uneinnehmbare Festung galt, versteckte man hier übrigens auch die schottischen Kronjuwelen vor Oliver Cromwell.

Was wäre Schottland eigentlich ohne all seine Ruinen? Jedes Mal, wenn sonst nichts ist als Wasser, Wiesen und Schafe, beleben Ruinen die Leere der Landschaft. Würden sie fehlen, wäre auch Schottlands Kulisse für dramatische Naturschauspiele nicht perfekt. Da können die Wolken wie vom Schnürboden eines Theaters herabhängen, in dem der betrunkene Beleuchter es blitzen und irrlichtern lässt. Erst die scharfe Silhouette zerstörter Festungen und Schlösser verleiht der Szene das Tiefgründige und Schwere.

Eine Klasse für sich stellen dabei Ruinen ehemaliger Kirchen und Klöster dar. In den Ruinen der Kathedrale von Elgin blickt man durch das leere Rund des Rosettenfensters wie durch ein Bullauge, vor dem Wolkenfetzen und Möwen vorbeiziehen. Die im 13. Jahrhundert erbaute Kathedrale galt einst als die nobelste aller schottischen Kirchen, „Laterne des Nordens“ genannt. Heute gehören die Überreste der gotischen Kreuzbasilika mit ihrem majestätischen Chor und der mächtigen Wehrturmanlage zu den nobelsten aller schottischen Ruinen. Die märchenhafte Kraft, die von diesem Ort ausgeht, verstärkt sich noch durch mystische Klänge gregorianischer Gesänge, die im Kapitelsaal eingespielt werden und sich unter der Gewölbedecke sammeln.

Die Ruine der Kathedrale St. Andrews liegt inmitten eines alten Friedhofs

An Größe wurde Elgin einst nur von der Kathedrale in St. Andrews übertroffen, und auch heute läuft die Kleinstadt an Schottlands Ostküste Elgin den Rang ab. Ein hübscher, kleiner Badeort, der behauptet, größer und geschäftiger zu sein, als er wirklich ist. Mit der ältesten Universität des Landes, dem berühmtesten 18-Loch-Golfplatz der Welt und dem Café, wo Prinz William seine Kate zum Tee traf, setzt sich St. Andrews geschickt in Szene. Während man Elgin an manchen Tagen durchaus allein genießen kann, muss man sich die Ruinen der St. Andrews Kathedrale, erbaut im 12. Jahrhundert, mit Touristen, Golfern und Pilgern aus aller Welt teilen. Ist hier tatsächlich ein griechischer Mönch nach einem Schiffbruch gestrandet und hatte die Reliquien des Heiligen Andreas im Gepäck, oder konnten Schotten einfach schon immer gute Geschichten stricken?

Seitenwände, Säulenstümpfe, Türme und Kapitelle der Kathedrale liegen verstreut auf einem Grasplateau über der Nordsee und inmitten eines Friedhofs. Ganze Generationen von Grabstätten sind hier gealtert. Einigen von ihnen wächst ein dickes Moosfell, andere neigen sich in tiefer Verbeugung, und den besonders greisen Gräbern sprengt der Frost Risse in die Steine, höhlt ihre Standfestigkeit aus, bis sie umfallen. Weil hier alles Neue und Frische fehlt, wirkt selbst der Tod vergänglich und sogar fast sympathisch, wenn er – wie auf einer Grabplatte des maroden Friedhofs – als Skelett in einer Hängematte liegend der Ewigkeit entgegenschaukelt.

In einer Werbekampagne für den Softdrink Irn-Bru beteuerte der Sensemann vor einigen Jahren: „Don’t be scared. You’ll still get Irn-Bru on the other side.“ – „Hab keine Angst. Auch auf der anderen Seite bekommst du immer noch Irn-Bru.“ Jetzt könnte die Fröhlichkeit des Hängematten-Skeletts als ein Beweis dafür herhalten, dass es des Schotten zweitliebstes Nationalgetränk nach dem Whisky auch im Jenseits gibt. Das extrem süße Irn-Bru soll nämlich schuld daran sein, dass Schotten die schlechtesten Zähne Europas haben – echte Ruinen eben. Ihre sehr eigene Idee von Geschmack sei den Schotten gegönnt, nur mit dem Glauben an den Zauber des Zerfalls sollten sie es nicht übertreiben – und das lieber ihren vielen Kirchen und Schlössern überlassen.