Zwischen Cocktailsesseln und Chopin – mit dem „Classic Courier“ auf Kreuz-Fahrt von Hamburg über Warschau nach Vilnius und zurück nach Polen

Bjalistoko estas la plej bela urbo de la mondo.“ Nun ja, die schönste Stadt der Welt ist Bialystok im hintersten Nordosten Polens sicherlich nicht, auch wenn die einstige Residenz- und Handelsmetropole ein charmantes Schloss, sehenswerte Kirchen und Parkanlagen zu bieten hat. Der euphorische Satz von Gästeführerin Katarzyna am Denkmal für Ludwik Lejzer Zamenhof soll auch vornehmlich demonstrieren, wie leicht verständlich die Plansprache Esperanto ist.

Hier in der Hauptstadt Podlasiens kurz vor der weißrussischen Grenze wurde der spätere Augenarzt und Philologe 1859 geboren. „Bis zu seinem 14.Lebensjahr wuchs er in Bialystok auf, später in Warschau“, erzählt Katarzyna. „In seinem Elternhaus wurde Polnisch, Russisch und Jiddisch gesprochen. Sein Vater war Lehrer für Deutsch und Französisch. Der kleine Lejzer war der Meinung, dass das alles viel zu kompliziert sei und Erwachsene sich doch ganz einfach mittels einer Sprache verständigen und verstehen müssten.“

So erfand Zamenhof „Esperanto“ und veröffentlichte 1887 ein Lehrbuch mit nur 17 Regeln. „Leider hat sich die Sprache nicht durchgesetzt“, sagt Katarzyna. „Doch viele Sehenswürdigkeiten unserer Stadt sind mit Informationstafeln in Polnisch, Englisch und Esperanto ausgeschildert.“ Im „Classic Courier“, mit dem wir am Abend zuvor in Bialystok eingetroffen sind, wird Deutsch gesprochen, was doch allen Passagieren geläufiger ist.

Bahnhof Hamburg-Harburg, zwei Tage zuvor. Gleis 2. „Warschau – Nos-talgie-Sonderzug SDZ 1347“ steht auf der Anzeigetafel. Punkt elf Uhr rollt eine blank polierte beige-blaue Elektrolok mit zehn dunkelblauen Waggons im Schlepptau ein. Die sechs Schnellzug-Abteilwagen stammen aus den 1960er und 70er Jahren. Von den vier Gesellschaftswaggons datiert der älteste, der „blaue Restaurantwagen“, sogar schon von 1940. Wir beziehen unser Abteil in der ersten Klasse: sechs rote Stoffsitze mit goldfarbenen Kopfschonern, dunkel gemusterter Teppichboden, zwei Klapptischchen unterhalb des Fensters, messingfarbene Gepäckablagen.

Ein wenig mehr Beinfreiheit gibt es in den blau möblierten Clubabteilen, die nur mit vier Sitzen ausgestattet sind. „Nicht hinauslehnen“ steht auf einem etwas abgeblätterten weißen Schild am Fenster. Nicht in Esperanto, sondern in Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch. Bordreiseleiter Martin Sikorski heißt die neu hinzugestiegenen Reisenden willkommen. Bereits um sechs Uhr morgens startete die Bahn im Ruhrgebiet und sammelte unterwegs Gäste ein. In Frankfurt/Oder steigen die letzten der 230 Passagiere zu. Die deutsche wird gegen eine polnische E-Lok ausgetauscht.

Die nächste Durchsage: Restaurantchef Adrian Klaric bittet zum Abendessen in den „roten Speisewagen“. Da der Zugbetreiber in Baden-Württemberg ansässig ist, tischt die Küchencrew am ersten Abend noch Spätzle auf. In den nächsten Tagen sind die Gerichte der jeweiligen Region, die wir durchfahren, angepasst. Immer frisch zubereitet. Am Nebentisch prosten sich Barbara und Hans-Friedrich Hintze aus Hamburg-Harburg zu. „Wir haben heute goldene Hochzeit“, berichten sie: „Zur Silberhochzeit sind wir mit der `’Transsib’ von Moskau nach Wladiwostok unterwegs gewesen. 25 Jahre später reisen wir nun auch wieder Richtung Osten, aber nicht mehr ganz so weit weg.“ Kurzer technischer Halt in der Industriestadt Posen. Schon geht es weiter – mit maximal 140 Kilometern pro Stunde – immer schnurgeradeaus.

Die vier Gesellschaftswagen bestehen aus drei Speise- und einem Salonwagen mit geblümten Cocktailsesseln, Mahagoni-Tischchen und Klavier. Als sich die letzten Sonnenstrahlen durch die Zugfenster verabschieden, stimmt Pianist Andrej Einhorn auf Frédéric Chopin, Warschaus berühmtesten Sohn, ein. Stockdunkel ist es, als der Zug endlich am Zentralbahnhof gegenüber dem hell erleuchteten Kulturpalast in der polnischen Hauptstadt eintrifft. Am nächsten Morgen erkunden wir die 1,8-Millionen-Einwohner-Metropole an der Weichsel, dem längsten Fluss Polens, im Schnelldurchgang.

Beeindruckend ist das Bronze-Denkmal des Warschauer Aufstands vor dem Obersten Gerichtshof und gegenüber der Feldkathedrale. Ab 1. August 1944 kämpften Widerständler 63 Tage lang erfolglos gegen die deutschen Besatzungstruppen. Als Reaktion ließ Adolf Hitler Warschau systematisch zerstören. Wir schlendern weiter durch die Neustadt mit ihren zahlreichen Kirchen. Am Altstadtmarkt bestaunen wir Warschaus Wahrzeichen, die Meerjungfrau, und das Ensemble wieder aufgebauter farbenfroher Bürgerhäuser, die sich eng aneinanderschmiegen. Schon nimmt der „Classic Courier“ wieder Fahrt auf – Richtung Bialystok.

Birken, Kiefern, Heide, hin und wieder ein plätschernder Bach, Sumpfgebiete, in denen sich Graureiher wohl fühlen, so präsentiert sich die Landschaft nahe der Grenze zu Weißrussland. Abrupt stoppt der Zug mitten in der Natur. Grillen zirpen. Bienen summen. Es duftet nach Viehwirtschaft. Ein Dutzend Kühe schaut verwundert von der angrenzenden Weide herüber. „Der Internetempfang ist auch hier bestens“, schallt es aus dem Nachbarabteil. Die Welt wirkt in Ordnung – 20 Kilometer vor Bialystok. Nicht ganz – die Lok ist defekt! Doch schon vierzig Minuten später zieht eine Ersatzlokomotive den blauen Lindwurm ans Ziel.

Am folgenden Tag ist eine grüne Diesellok vor die zehn Waggons gespannt. Auf eingleisiger Strecke fahren wir weiter gen Norden bis Suwalki. Nur wenige Menschen warten unterwegs auf verschlafenen Bahnhöfen auf ihren Zug. Normalerweise sollte unsere Zugreise in Sestokai in Litauen enden. Bis dort führt noch die europäische Normalspur von 1435 Millimetern. Zu Sowjetzeiten wurde Litauen auf die russische Breitspur umgerüstet, auf der der „Classic Courier“ nicht fahren kann. Aufgrund von Bauarbeiten steigen wir bereits 30 Kilometer vor der Grenze auf „Schienenersatzverkehr“, also auf einen Reisebus, um.

Kirchtürme prägen Vilnius’ Stadtsilhouette. „Den besten Überblick gibt es vom Gediminas-Berg direkt hinter dem Kathedralenplatz“, rät Stadtführerin Ramune. Der Fluss Neris trennt die überwiegend barocke Altstadt von den modernen Glaspalästen am anderen Ufer. „Vilnius war einst das Zentrum des Ostjudentums. Heute gibt es nur noch eine Synagoge, aber zahlreiche orthodoxe und katholische Kirchen“, informiert Ramune. Wir beschränken uns auf die weiße klassizistische Kathedrale Sankt Stanislaus, die gotische Backsteinkirche Sankt Anna und das Tor zur Morgenröte mit einem wundertätigen Madonnenbildnis. Am Nachmittag erkunden wir das Lieblingsziel der Hauptstädter, die gotische Inselburg Trakai im Galve-See. „Sie wurde zur Zeit des Krieges gegen den Deutschen Orden errichtet“, so Ramune, „im 16. Jahrhundert stark zerstört und erst in der Sowjetzeit wieder aufgebaut.“

Über Kaunas, wo die Neris in die Memel mündet, fahren wir zurück nach Suwalki in Polen. Endlich windet sich der „Classic Courier“ auch mal durch ein paar Kurven zwischen den sanften Hügeln. Blaues Wasser schimmert zwischen Bäumen hindurch. Masuren – das Land der dunklen Wälder und glasklaren Seen ist erreicht. Das Küchenteam serviert ostpreußischen Betenbartsch (Rote-Bete-Suppe mit Fleischklößchen), Johannisburger Wildgulasch und Charlotka (Biskuittörtchen mit Waldbeergrütze). Vor den Fenstern geht die wellige Landschaft viel zu schnell ins Flachland über.

Wir sind wieder an der Weichsel angekommen, in der ehemaligen Hansestadt Torun (Thorn), Geburtsort von Nikolaus Kopernikus, der die Sonne anhielt und die Erde in Bewegung setzte. Es ist die Zeit der blauen Stunde. Der klare Himmel und die vielfarbige Beleuchtung der Gebäude hüllen die Stadt in ein magisches Licht. Auf Esperanto ließe sich das sicher poetischer sagen.