Die ruhige, autofreie Nordseeinsel Helgoland liegt nur 62 Kilometer nordwestlich der Elbmündung und ist ein beliebtes Ziel für Familien, Naturliebhaber und Vogelkundler

Wenn Sie Ihren Gesprächspartner mal so richtig schocken wollen, müssen Sie sich weder als Steuersünder outen noch Einblicke in seelische Abgründe eröffnen, es reicht ein einfaches Bekenntnis: „Wir fahren im Urlaub nach Helgoland.“ Ihr Gegenüber wird in neun von zehn Fällen erbleichen, vielleicht ein „Wie schrecklich!“ raunen und dann eine Horrorgeschichte parat haben: von einer üblen Überfahrt oder Schnapsleichen auf dem Fuselfelsen, von einer Polonäse der Kettenraucher durch Duty-free-Shops oder irgendeinem Kindheitstrauma aus einem anderen Jahrtausend.

Vielleicht sollte man sie einfach schlau daherschnacken lassen und sein besseres Wissen für sich behalten. Aber Helgoland hat eine Ehrenrettung verdient. Die Insel, 62 Kilometer nordwestlich der Elbmündung gelegen, ist wunderbar – oder besser gesagt, die Inseln sind wunderbar. Denn Helgoland ist ein Zwilling: Ein beeindruckender roter Felsen, der aus dem Meer aufragt, und eine herrliche Düne gleich nebenan für Badespaß und karibische Momente an der Nordsee. Bis zur Neujahrssturmflut 1720/21 waren die beiden eins – und einiges spricht dafür, dass die Hamburger am Schicksal des Pinneberger Eilands nicht ganz unschuldig waren. Noch 100 Jahre zuvor stand auf der Düne das Wittekliff, das fast so hoch wie der rote Felsen gewesen sein soll. Findige Geschäftemacher aus der Hansestadt bauten hier eifrig Gips und Muschelkalk ab, sodass der Felsen rasch in sich zusammenfiel.

Fast wäre es vor einigen Jahren zur Wiedergutmachung gekommen: Die Idee des Hamburgers Arne Weber, die Düne durch einen Damm mit Marina und Hotels wieder mit der Hauptinsel zu vereinigen, scheiterte an der knappen Mehrheit der Insulaner. So bleibt die Insel vom ganz großen Tourismus verschont – und auch das schätzen gerade die Dünenfans. Hier gibt es inzwischen zwei Bungalowdörfer und den Zeltplatz, der für naturverbundene Individualisten ein attraktives Ziel ist: Kein Tagestourist hat sich je auf die Düne verirrt. Man ist allein mit den wenigen Langzeitgästen und Hunderten von Seehunden und Kegelrobben, die die Düne bevölkern. Es gibt nicht viele Plätze auf der Welt, wo man wild lebenden Tieren so nahe kommen kann – einige Schwimmer reagieren zunächst verstört, wenn wenige Meter vor ihnen plötzlich ein freundliches bärtiges Gesicht aus dem Wasser auftaucht. Keine Angst, die wollen nur spielen!

Noch ein Wort zur See: Wer vor Helgoland in die Nordsee springt, wähnt sich an einem anderen Meer. So klar, so blau sieht man es selten. Ruhig und naturverbunden geht es am Nordstrand der Insel zu, der Südstrand ist etwas bevölkerter, sehr familienfreundlich und hat auch ein Restaurant. Dazwischen liegt der wohl skurrilste Flughafen das Landes. Bei schönem Wetter kommen die Kleinflugzeuge aus dem blauen Himmel angeschwebt und verschwinden dann urplötzlich in den Dünen. Die Badeinsel ist übrigens eine Folge großdeutschen Irrsinns: Um hier den Flughafen zu nutzen, wurde die Insel im Rahmen des Programms „Hummerschere“ erweitert und mit Buhnen gesichert.

Der Zweite Weltkrieg hat Helgoland geprägt wie verheert. Die Nazis wollten den Felsen zur Seefestung ausbauen und gruben ein Riesen-Bunkersystem. Kurz vor Kriegsende vernichteten die Briten mit 7000 Bomben das alte Helgoland. In der Deutschen Bucht ging der Krieg auch nach der Befreiung weiter. In der größten nichtnuklearen Sprengung zerstörte man 1947 viele Bunker und Teile der Insel, bis 1952 blieb sie militärisches Sperrgebiet und Bombenabwurfplatz für die Luftwaffe. Bis heute sind die Zeugnisse des Krieges unübersehbar: Das Mittelland wuchs aus den Trümmern der gesprengten Südspitze; Teile des Bunkersystems sind noch heute in Führungen zu besichtigen, ein gespenstischer wie lohnenswerter Ausflug.

Die völlige Zerstörung führte nach 1952 zu einem nahezu geschlossenen Wiederaufbau im Stil der 1950er-Jahre. Die Architektur, nach Wind und Sonne ausgerichtet, hat durchaus ihren Reiz und hebt sich wohltuend von den Verschandelungen der 60er- und 70er-Jahre in anderen Küstenorten ab. Als der Massentourismus begann, hatte Helgoland schon keinen Platz mehr. Hinter dem Ort führt ein Rundweg zum Wahrzeichen, dem Felsen Lange Anna, und dem höchsten Berg des Kreises – dem 61,3 Meter hohen Pinneberg. Während sich hier tagsüber die Tagestouristen entlangwälzen, hat man den Felsen mit seiner reichen Vogelwelt am frühen Morgen und späten Abend fast für sich allein. Für Ornithologen ist Helgoland ohnehin ein Hotspot – die Insel gilt mit 432 nachgewiesenen Arten als einer der artenreichsten Orte in Europa. Überall bekannt sind die schwarzen Trottellummen, die hier quasi auf ihrem eigenen Felsen, dem sogenannten „Lummenfelsen“, brüten.

Obwohl die Hauptinsel mit einer Gesamtfläche von einem Quadratkilometer kleiner als der Hamburger Stadtpark ist, wird es nicht schnell langweilig. Gerade Kinder lieben das Lummerland-Leben: Es gibt keine Autos, nur einen Fahrstuhl vom Unter- zum Oberland. Ein kleines Museum erzählt vom Leben des größten Helgoländers, James Krüss. Das Schwimmbad lockt mit einem Indoor-Spielplatz – und wer noch nicht schwimmen kann, dem sei ein Kurs beim Chef empfohlen. Im Sommer gibt es ein umfangreiches Ferienprogramm, vom Freiluftkino bis zur Urlauberkirche. Und das gastronomische Angebot ist für Küstenverhältnisse anständig und überraschend günstig.

Die Insel, die noch in den 1970er Jahren bis zu 800.000 Ausflügler pro Jahr anzog, kommt heute nicht einmal mehr auf die Hälfte. Für Touristen muss das kein Argument sein – Literaten wie Franz Kafka, Heinrich Heine oder August Strindberg besuchten Helgoland und waren begeistert. Hoffmann von Fallersleben dichtete dort das Deutschlandlied.

Überhaupt bietet der Felsen viel Geschichte. 1864 konnten die Sommerfrischler vom Felsen die deutsch-dänische Seeschlacht beobachten – Helgoland war damals englisch. Erst vor 125 Jahren wurde Helgoland wieder deutsch. Seitdem mag sich vieles verändert haben. Die Helgoländer Farben aber strahlen wie ehedem: „Grön is dat Land, rot is de Kant, witt is de Sand. Dat sünd de Farven vun't hillige Land.“