Sansibar ist Afrikas gutgehütetes Geheimnis – eine tropische Märcheninsel im Indischen Ozean mit viel Historie und mehr als Palmen und Strand.

Die kleinen Jungs sehen exakt aus wie Miniaturabziehbilder ihrer Väter. Sechs, sieben und acht Jahre alt mögen sie sein, strahlend weiß und fein gebügelt sind ihre Kaftane, eine bestickte „kofia“-Rundkappe tragen sie auf dem Kopf. Abdul jedoch hat seinen Kaftan in seine Fußballshorts gesteckt und kickt mit den anderen Jungen auf dem brüchigen Pflaster vor der Moschee um die Wette. Es ist Freitag, und freitags ist Sonntag auf Sansibar, der Gewürzinsel im Indischen Ozean, knapp 40 Kilometer vor der Küste Tansanias.

Sansibar, das Sehnsuchtsziel mit einem Namen so geschichtssatt und mystisch wie Timbuktu oder Katmandu, ist zu 95 Prozent muslimisch. Doch das hält weder die stattliche anglikanische Church of Christ noch die frisch restaurierte katholische St. Joseph’s Cathedral mit ihren zwei stolzen Türmen davon ab, mit präzisen Glockenschlägen morgens und abends dem Muezzin-Ruf aus 48 Moscheen und dem Geklingel indischer Tempel standzuhalten. Auch die Tatu-Bar, auf drei Stockwerken im arabischen Stil, nur einen Steinwurf von der Madrasa-Koranschule der fußballspielenden Jungen entfernt, setzt mit Afropop aus Nigeria und Reggae eigene, altstadtüberschallende Akzente.

An den weißen Traumstränden von Kendwa Rocks, Nungwe, Paje oder Michamwi, wie die Fischerdörfer an der Nord- und Ostküste von Sansibar heißen, merkt der Urlauber noch weniger vom Einfluss der Imame. Hier kann er ungestört in Bikini und Shorts bei 36 Grad im März sonnenbaden und bei taghellem Mondlicht auf den legendären Full-Moon-Partys des Kendwa Rocks Hotels im Sand versacken. Nicht mehr als eine Kanga, das traditionelle ostafrikanische Umhängetuch, und ein T-Shirt braucht man auf diesen Barfuß-Partys, die bei jungen Leuten und Rucksacktouristen aus aller Welt in Afrika inzwischen fast denselben Stellenwert haben wie ihre Pendants etwa auf Bali oder in Goa.

Nach den heißen Mittagsstunden füllen sich die Straßen und Dachterrassen

Sansibars Haupttrumpf ist die 1000 Jahre alte, von der Unesco 2000 als Weltkulturerbe eingestufte Altstadt – ein urbanes Zentrum mitten im Ozean. Eine Überraschung schon beim Anflug, schwer zerfallen und brüchig, doch immer noch die Aura der einstigen Weltmacht ausstrahlend. Stonetown wird das märchenhafte Quartier genannt, weil die meisten der 2500 denkmalgeschützten Sultanresidenzen, der holzverzierten indischen Handelspaläste und mehrstöckigen, ineinander verschachtelten Wohnhäuser allein aus Korallenstein gebaut sind. Es ist ein lebendiges Museum, in dem bis heute Harems existieren, aber auch Straßenverkäufer die neuesten DVD-Raubkopien anbieten und lokale Lädchen Plateau-Schuhe für die Damen in schwindelerregender Höhe führen. Ab 16 Uhr backen Frauen sogenannte „chapatis“, das sind Teigpfannkuchen, auf kleinen Holzkohleöfen auf offener Straße, oder Chips aus hauchfein geraspeltem Maniok.

Die Gassen füllen sich, wenn die allzu heißen Mittagsstunden vorüber sind. Dann drängen Urlauber zum „Livingstone“, wo sie in einem Strandgarten unter Platanen entspannen, oder zum Africa House, wo sie auf einer Dachterrasse das tun, was schon die Engländer in dem 1888 eröffneten englischen Club zelebrierten: mit einem kalten Kilimanjaro-Bier oder einem Gin Tonic auf den filmreifen Sonnenuntergang über dem Indischen Ozean anstoßen. „Sansibar war immer schon kosmopolitisch“, sagte der vor knapp einem Jahr verstorbene Inselpionier Emerson Skeens aus New York, der vor 25 Jahren kam und das Reiseziel wie kein anderer auf die internationale Landkarte gesetzt hat. Er gründete die ersten von inzwischen über zwanzig Boutique-Hotels, darunter das gerade frisch renovierte „Emerson on Hurumzi“.

Emerson erkannte den Wert der Märcheninsel, die jahrhundertelang beim Handel mit Gewürzen, Elfenbein und Sklaven prosperierte und 200 Jahre lang zum Sultanat von Oman gehörte. 1954 nahm Prinzessin Margaret auf den Stufen der Alten Post die letzte Ehrenparade des mittlerweile Britischen Protektorats ab – heute ist in dem zweigeschossigen John-Sinclair-Gebäude eine populäre Tapas-Weinbar untergebracht. Denn auch das gehört zum neuen Sansibar-Mix: Zugezogene und Entwicklungshelfer, Uno-Mitarbeiter und Reporter nehmen hier ihre Auszeit vom Krisenkontinent und bescheren der Insel einen Hauch des frühen Ibiza. Auch an den Stränden – vom Stadtstrand, wo abends Jugendliche Hechtsprünge von der Kaimauer wagen, bis zu den rund anderthalb Stunden Autofahrt entfernten Urlaubshochburgen der Nord- und Ostküste – zeigt Sansibar mehr Profil als andere Afrika-Ziele. Fischerdörfer, Lehm- und Steinhütten siedeln direkt am Wasser, einheimische Frauen haben die Kunst und schwere Arbeit der Seegras-Züchtung kennengelernt und bewirtschaften vielerorts im Meer Plantagen. Budget-Hotels und Alternativ-Bars wie das Red Monkey in Jambiani bringen mit Jam-Sessions einheimische und zugewanderte Musiker zusammen. Kaum irgendwo in Ostafrika spielt sich einheimisches Leben so nah am Meer und so dicht am Tourismus ab.

Wie Marrakesch auf Sylt, gewürzt mit einer guten Prise Kuba, fühlt sich Sansibar an. Wie Kuba, weil auch hier die Vergesellschaftung gewütet hat, nachdem das Inselreich 1964 in einem sozialistischen Coup mit Tanganjika zu Tansania vereinigt wurde. „Wir befinden uns immer noch im Stadium des Kommunismus-Hangover“, sagen viele der Einheimischen. Wo früher ein Sultansclan oder indischer Großhändler lebte, hausen heute in parzellierten Häusern Dutzende von Familien. Sansibars größte Sehenswürdigkeit, das „Haus der Wunder“ mit seinen riesigen weißen Steinterrassen und dem ersten Aufzug südlich der Sahara, wurde wegen Baufälligkeit gerade gesperrt. Private Initiativen sind da aktiver: Kammermusiker der Dhow Music Academy beispielsweise, einer traditionellen Musikschule direkt am Stadtstrand, laden zu intimen Taarab-Abenden in den Ruinen des Mtoni-Haremspalastes ein, in dem die 1866 mit einem Hamburger Handelsmann durchgebrannte Sultans-prinzessin Salme lebte – neben dem hier geborenen Rockmusiker Freddie Mercury die bekannteste Persönlichkeit der Insel.

Die Tourismusindustrie setzt nach dem Niedergang des Nachbarlands Kenia als Beach-Destination allemal auf den Sansibar-Archipel, der neben den Hauptinseln Unguja (meist Sansibar genannt) und Pemba noch 40 kleinere Inselchen umfasst. In der Altstadt eröffnete jüngst nahe des Klassikers Serena Hotel das erste Hilton Double Tree. Ein Hyatt-Neubau, der einen Großteil des Stadtstrands einnimmt, wartet auf Einweihung, ein Yachthafen ist angedacht – verdammt große Pläne für die kleine Insel. Und für manche schon der Abgesang auf das alte Sansibar.