Mit der „Lord of the Glens“ geht es acht Tage durch den 97 Kilometer langen Kaledonischen Kanal und zu den Inneren Hebriden im Atlantik

Schiffe haben es Struan angetan. Sobald sich eines über den Meeresarm Loch Nevis dem Küstenort Inverie nähert, läuft der Neunjährige mit seinem Vater hinunter zum Anleger und hilft beim Festmachen am Pier. Den 80-Einwohner-Ort erreicht man nur mit dem Schiff. Nach Inverie auf der Halbinsel Knoydart im Nordwesten Schottlands führen weder Autostraßen noch Schienen. Struans Vater Ian diente einst bei der britischen Armee. „Ich bin viel in der Welt herumgekommen“, erzählt der 68-Jährige: „Kenia, Singapur, Zypern und zwei Jahre Iserlohn im Sauerland waren meine Stationen.“ Danach wählte er die Abgeschiedenheit und betrieb 21 Jahre lang in Inverie den entlegensten Pub des britischen Festlands, The Old Forge Inn.

Trotz der abgeschiedenen Lage ist das Dorf eine bunte, multikulturelle Gemeinde: Deutsche, Holländer, Belgier, Polen und Neuseeländer zählen zu den Bewohnern, da sie wie Ian Robertson und seine Frau Jackie von der grünen, friedlichen Landschaft ohne Mobilfunknetz fasziniert waren. „In Inverie leben alle, weil sie wollen, nicht weil sie müssen“, sagt Ian. „Einmal im Monat geht es zum Großeinkauf nach Inverness an die Ostküste. Drei bis vier Stunden mit dem Auto quer durch die Highlands. Dort übernachten wir, genießen etwas Kultur und arbeiten unsere Einkaufsliste ab.“

Mit einem Fernglas wird Loch Ness nach dem Ungeheuer abgesucht

Am späten Nachmittag wird Struan der „Lord of the Glens“ beim Anlegen helfen. Das dunkelblaue Schiff im Stil einer Yacht ist vor fünf Tagen in Inverness im Kaledonischen Kanal gestartet. „Zwischen 1803 und 1822 ließ der schottische Ingenieur Thomas Telford den Kanal errichten, der die Nordsee mit dem Atlantik verbindet und Schiffen die lange Fahrt um Schottlands stürmischen Norden ersparen sollte“, sagt Bordreiseleiterin Konstanze Tack. „Zur Zeit der Highland Clearance, als Menschen aus dem Hochland vertrieben wurden, damit die Großgrundbesitzer mehr Platz für Schafzucht hatten, diente das Bauprojekt auch der Schaffung neuer Arbeitsplätze.“

Nur ein Drittel des 97 Kilometer langen Kanals ist künstlich erschaffen. Er verbindet die Seen Dochfour, Ness, Oich und Lochy miteinander. Ihre Höhenunterschiede werden mit 29 Schleusen ausgeglichen. Doch die erhoffte wirtschaftliche Bedeutung blieb aus. Heute ist der Kaledonische Kanal eine von Schottlands Touristenattraktionen. Auf den „Lochs“ kann es bei Regen und Wind schon mal hoch hergehen wie auf einem stürmischen Meer, hatte Kapitän Anthony Reading beim Begrüßungsdinner beiläufig erwähnt. Doch am nächsten Mittag fallen keine dicken Regentropfen vom Himmel. Sonnenstrahlen lassen Sterne auf dem blauen, spiegelglatten Wasser tanzen. Mit sechs Knoten (elf Kilometer pro Stunde) steuert Reading die „Lord of the Glens“ über den rund 230 Meter tiefen und zweitgrößten See Schottlands: Loch Ness.

„Auf 36 Kilometern haben wir jetzt Gelegenheit, Nessie zu sehen“, scherzt Bernd aus München. Er hat auf dem vorderen Aussichtsdeck Position bezogen und sucht mit seinem Fernglas den See ab. Im Jahre 565 soll „das Ungeheuer von Loch Ness“ das erste Mal gesichtet worden sein. Inzwischen wurden um die 4000 Sichtungen registriert. Größtenteils von der Ruine Urquhart Castle, die sich gerade an Steuerbord gegen den blauen Horizont abzeichnet. Plötzlich ein kurzes Rucken. Aber offenbar haben sich nur die Schiffsmotoren „verschluckt“. Die Chance, einen Blick auf Nessie in allen Varianten zu erhaschen, bietet schließlich der Souvenirshop in Fort Augustus. Spannender in dem verschlafenen Nest ist die Schleusentreppe mit fünf hintereinander gereihten Schleusen. Jede von ihnen hebt oder senkt das Wasser des Kanals um 2,4 Meter. Eine Stunde dauert die komplette Durchfahrt.

Während die 47 Gäste sich auf den Weg ins Robert-Louis-Stevenson-Restaurant zum Drei-Gänge-Dinner begeben, hat die „Lord of the Glens“ direkt hinter der „Himmelsleiter“ festgemacht. Im Jahr 2000 wurde das 1985 in Griechenland gebaute Schiff im spanischen Bilbao für den Kaledonischen Kanal umgerüstet. Insgesamt 27 geräumige mahagoni- und cremefarben getäfelte Zweibettaußenkabinen verteilen sich über drei Decks. Im obersten Stock gibt es die „David-Livingstone-Lounge“ mit Bar und Panoramablick. Zwei kleine Aussichtsdecks befinden sich am Bug und Heck. Ausreichend Entertainment liefert in Schottland die Natur, ein hochkarätiges Bordprogramm ist nicht erforderlich. Bodenständig und unkonventionell ist die 18-köpfige internationale Mannschaft.

Delfine und Seehunde sind entlang der Insel Skye zu sehen

Am folgenden Morgen startet die „Lord of the Glens“ zur zweiten Etappe durch den Kanal. Zwischen Loch Oich und Loch Lochy manövrieren Kapitän Reading und sein Erster Offizier James Forbes das Schiff hochkonzentriert durch eine etwa 2,5 Kilometer lange, schmale Baumallee, die Laggan Avenue. Kiefern, Eschen, Erlen, Birken, Weiden und Vogelbeerbäume säumen den Kanal. Bei Banavie nahe Fort William schält sich Großbritanniens höchster Berg aus einer Wolkenwand, der 1343 Meter hohe Ben Nevis. „Neptun’s Staircase“ mit acht hintereinander liegenden Schleusenkammern ist erneut eine Präzisionsaufgabe für die Crew.

In Corpach öffnet sich die letzte Doppelschleuse. Über den Loch Linnhe schippert der „Herr der Schluchten“ Richtung Atlantik. Der Touristenort Oban ist das Tor zu den Inneren und Äußeren Hebriden. Auf der Insel Mull heißt es eintauchen in die Welt der Clans. „Clan bedeutet Kinder und kommt vom gälischen Wort Clann“, erklärt Konstanze Tack. „Ab dem 12. Jahrhundert schlossen sich im bergigen Hochland größere Gruppen zusammen, die über den Familienverband hinausgingen.“

Seit mehr als 700 Jahren ist das Duart Castle Hauptsitz des Clans MacLean. Derzeit wird das Schloss vom 28.Oberhaupt bewohnt. Fichten und grüne Farne, die so hell leuchten, als habe jemand unter ihnen ein Licht angeknipst, prägen das Eiland. Schafe und zottelige Hochlandrinder dösen auf mit weißen Gänseblümchen und gelben Butterblumen übersäten Weiden. Die 32 Paare von See- und Steinadler halten sich versteckt. An Muck, Eigg und Rum schaukelt die „Lord of the Glens“ vorbei nach Canna, dem kleinsten Eiland der Inselgruppe der Small Isles (kleine Inseln). Eine Kirche, eine Kapelle, ein keltisches Kreuz, ein paar Bauernhöfe, Kaninchen, Schafe, Rinder, ein Postamt mit roter Telefonzelle, ein Café, Sandstrand, dümpelnde Fischerboote und ganz viel Grün – das ist Canna. Auf der Rückfahrt entlang der Insel Skye springen zwei Delfine neben dem Bug aus dem Wasser. Seehunde räkeln sich auf einer Sandbank.

Als sich das Schiff der Halbinsel Knoydart nähert, warten „Festmacher“ Struan und sein Vater bereits am Hafen von Inverie. Einer der philippinischen Matrosen wirft ihnen das Tau zu. Mit leuchtenden Augen legt Struan es um den Poller am Kai. Wie die meisten Dorfbewohner spazieren die Passagiere der „Lord of the Glens“ nach dem Abendessen zum Old Forge Inn, um ein Caledonia Best zu genießen, bevor die Sonne hinter den grasgrünen Bergen am Loch Nevis untergeht.