Auf Traumpfaden durch den Anti-Atlas: das Leuchten des Orients, Couscous und Koriander, das geheimnisvolle Berberland und Millionen blühender Mandelbäume

Erst meldet sich der Muez-zin, frühmorgens gegen fünf. Nicht über Lautsprecher, sondern durch die hohle Hand schickt er seine Botschaft von einer dunklen Felswand zur anderen: Allah u Akbar, Allah u Akbar. Ash-hadu al-la Ilaha ill Allah. Gleich danach krähen die Hähne, bellen ein paar Hunde, und dann geht die Sonne auf: Zunächst mit einem sanftem Gelb, dann purpurrot und schließlich in leuchtendem Orange malt sie von oben nach unten die Berge an, auf die wir vom Hotel aus schauen.

Der Gott muss groß sein, der solche Landschaften und Farben geschaffen hat, wie sie uns seit Tagen im Süden Marokkos, in den wilden Schluchten und auf den Hochebenen des Anti-Atlas, den Atem anhalten lassen: die Canyons im Mansour-Tal, durch das ein schmaler Bach rieselt, von Palmen gesäumt; Terrassen, auf denen Getreide und Gemüse üppig sprießen; Granitformationen, die die Fantasie herausfordern, und Indianerköpfe, einen Walfisch oder Napoleons Hut erkennen lassen.

Von Tafraoute aus einen Vorschuss auf den Frühling nehmen

Über allem steht ein Himmel, tiefblau wie die Tücher der Tuaregs, die sich unsere Fahrer, Berber allesamt, wie einen Turban gegen Kälte und Staub um den Kopf schlingen. In den mittleren Höhen gibt es Plantagen aus Oliven- und Arganbäumen, grün wie die Symbolfarbe des Propheten. Am späten Nachmittag sehen wir den leuchtend-roten Widerschein der Berge, der für die Leidenschaft stehen könnte, für das Herzblut, mit denen die Volksgruppen des tiefen Südens, keine hundert Kilometer von der Sahara entfernt, ihre Würde zu wahren suchen.

Wir waren Mitte Februar in Agadir gelandet, diesem populären Badeort, der kein Gesicht mehr hat, seit 1960 ein verheerendes Erdbeben alles zerstört hat, was zuvor an die portugiesisch-französisch-orientalische Vergangenheit erinnert hatte. Unsere Ziele: einen Vorschuss auf den Frühling nehmen, dem Duft des Südens zusammen mit Gleichgesinnten entgegenlaufen, gut und kundig geführt von einem Reiseleiter, der uns vielleicht ein wenig den Schleier über den Geheimnissen der Souks und der uralten Festungen auf den Berggipfeln lüften würde.

Tafraoute heißt das Städtchen, unser Basislager, aus dem wir täglich in die Berge aufbrechen, zu vielstündigen Wanderungen auf abenteuerlichen Pfaden, zu Touren mit dem Geländewagen, die uns in die Nähe von Felsgravuren bringen, 8000 Jahre alt und noch nicht von Salafisten zerstört wie im benachbarten Draa-Tal. Die Schandtat hat vor drei Jahren die Weltöffentlichkeit, am meisten aber wohl die Marokkaner selber geschockt, die bis dahin so gut mit ihrer unaufdringlichen Version des Islam gefahren waren, wie sie auch dem Reisenden begegnet: tolerant gegenüber Christen und Juden, moderat im Alltag, einer Tradition verpflichtet, die identitätsstiftend wirkt.

Hassan sieht auf den ersten Blick aus wie der junge Sammy Davis jr. Er schaukelt den schweren Landcruiser über Geröll und durch verwilderte, ausgetrocknete Flussbetten. Und er ist Berber, das vor allem. Einen stolzeren findest du nicht. Araber sind auch Menschen, sagt Schumi, wie er sich selber nennt, über seine marokkanischen Brüder. Aber mit Berbern vom Stamme Sammy-Schumi können sie, so sagt er augenzwinkernd, nicht mithalten. Sie fahren nicht so gut, sie singen nicht so gut, sie beten anders, sie haben nicht so gute Laune wie er.

In der Tat sind Berber, vor allem im Süden, wo sie die Mehrheit stellen, die etwas anderen Marokkaner. Ihre Kultur ist älter als der Islam, ihre Stämme sind heillos zerstritten; nach außen hin jedoch, und dafür steht unser Freund Hassan, sind sie allesamt Imazighen – freie Männer, die sich – Kolonialherren hin oder her – nie wirklich haben unterdrücken lassen.

Auf dem Wege von Tiznit in die Berge, zwei Tage bevor wir in die Geländewagen umgestiegen waren, kletterten wir mit dem Bus die Serpentinen hoch. Mustafa saß am Steuer, auch er ein Berber, aber einer, den nichts so leicht aus der Ruhe bringt. Bis kurz vor dem Kerdous-Pass eine rosa Wolke rechter Hand auftauchte: ein simpler Mandelbaum, allerdings in voller Blüte, der erste auf dieser Reise. Aussteigen, fotografieren, total und im Detail. Mustafa staunte und schob zu seiner und unserer Beruhigung eine CD mit sanfter Berbermusik in den Bordrecorder.

Wenig später dann, millionenfach und über Tage hinweg: „baden“ in Mandelfarben, schweben, fahren, laufen durch ein Meer weißer, rosa und fast roter Blüten. Aus großer Höhe sehen die dicht an dicht stehenden Bäume aus wie die hochflorigen Teppiche, die in den Siebzigern bei uns als „typisch Berber“ verkauft wurden.

Brahim, Wanderführer mit viel Geduld für die Ungeübten, zeigt uns die bemalten Felsen, die in jedem Reiseführer stehen, Land-Kunst der eher schrägen Art. Ein Belgier hat vor Jahrzehnten gemeint, die Natur überlisten zu müssen; die blauen und roten Granitbrocken gefallen niemandem aus der Gruppe. Brahim ist derselben Meinung, und allesamt genießen wir eine Stunde später das Gipfelglück mit einem Blick über ein wunderschönes, ungekünsteltes Land.

Sanftes Abenteuer: Zum Beispiel der Aufstieg zur Kasbah Tizourgane, einer uralten Dorffestung, heute ein uriger Gasthof, vom Wüstenwind umtost. Saida, so tiefschwarz, als stamme sie aus Timbuktu, serviert Couscous aus der Tajine, einem glasierten Schmortopf, der stets von einer tönernen Zipfelmütze gekrönt ist. Jeder nimmt sich vom Weizengries, vom Gemüse, vielleicht ein Stück Huhn, gewürzt mit einem Hauch von Koriander und der scharfen Harissa-Paste.

Der Reiseleiter und zwei Fahrer haben auf dem Markt eingekauft für ein Picknick im Garten Eden: Orangen, Gurken, Tomaten, Käse, Sardinen aus dem Atlantik, Datteln, Feigen, Rosinen, vier Sorten Oliven und natürlich Mandeln aus der jüngsten Ernte. Das alles wird auf einem langen Tisch appetitlich angerichtet, im Schatten alter Arganbäume, deren Früchte das angeblich wertvollste Öl der Welt liefern.

Es sind solche und andere Szenen, die auch Prof. Horst H. Siedentopf, Honorarkonsul für Marokko in Hamburg, immer wieder faszinieren. Seit der renommierte Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige Topmanager 2001 zum ersten Mal mit seiner Familie das Land auf ähnlichen Wegen bereiste wie wir jetzt, hat es ihn nicht mehr losgelassen: „Die dramatisch schöne Natur vor allem in den Atlas-Gebirgen, die vielfältige, zum Teil jahrtausendealte Kultur, das quirlige Leben in den Souks und ganz besonders die Gastlichkeit der einfachen Menschen beeindrucken mich jedes Mal aufs Neue.“