Unterwegs in Siziliens schönstem Ort – eine Zeitreise in längst vergangene Geschichte und ein sinnenfroher Bummel durch die malerische Altstadt

Wir waren am frühen Morgen eine Weile durch die Straßen von Messina gelaufen, auf der Suche nach mediterraner Heiterkeit und urbaner Abwechslung während einer Kreuzfahrt durchs Mittelmeer. Aber das Stadtbild ist weitgehend geprägt von gesichtslosen Neubauten und breiten, baumlosen Straßen aus der Zeit nach dem Krieg und nach der Katastrophe von 1908. Damals zertrümmerte ein Erdbeben die Metropole an der Meerenge zwischen Sizilien und Kalabrien. Kurzer Entschluss: Ab nach Taormina, ab ins pralle Leben, süße Sünden kosten und große Kultur bestaunen.

Zehn Minuten hatten wir mit Giovanni gefeilscht, dem Taxifahrer, der mit seiner dunklen Brille, seinem Gigolo-Lächeln und seinen gegelten Haaren gut eine Klischeerolle in einem Mafiafilm aus Hollywood übernehmen könnte. Aber was sind schon Äußerlichkeiten: Wir sollten bald ziemlich gute Freunde werden. Auf dem Weg nach Taormina wuchs uns Giovanni ans Herz, weil er wie der Teufel alle Kurven nahm und wir uns dennoch sicher fühlten. Er sei doch in Taormina geboren und freue sich jedes Mal, wenn er Amicos in seine Stadt bringen dürfe, die schönste in ganz Italien, versteht sich.

Und jetzt, vor Ort, verblüfft uns das Schlitzohr durch Hinweise auf Bars und Hinterhöfe, auf Ristorantes und lauschige Ecken, die nicht in jedem Reiseführer stehen. Ein abgewetztes Buch mit Goethe-Zitaten, das er seit mindestens zehn Jahren für deutsche Fahrgäste mit sich führt, sollte später sein Trinkgeld zusätzlich in die Höhe treiben.

Also los, rein ins Gewirr der Altstadtgassen, die in diesen Wochen fast den Einheimischen allein gehören, erst einmal auf die Piazza IX Aprile. Der Platz im Herzen der kleinen Stadt ist so etwas wie die gute Stube Taorminas. Vor dem Eingang zur Barockkirche San Giuseppe drängen sich gleich drei Brautpaare mit ihren Verwandten, allesamt festlich herausgeputzt. Giovanni schleppt uns zum Uhrturm in der Mitte der Piazza, einem Wahrzeichen der Stadt, und während er mit den alten Männern plaudert, die dort auf den Bänken sitzen und den Tag genießen, halten wir den Atem an.

Was für ein Ausblick: auf den Monte Tauro, der dem Ort den Namen geliefert hat, von einer Burg aus den Tagen arabischer Invasoren gekrönt; auf die Strände von Naxos, tief unter uns, und auf das Meer, postkartenblau. Was meinst du, Giovanni? Sollen wir jetzt zuerst zum Griechischen Theater mit dem Ätna im Hintergrund, einer Kulisse, die Goethe im Mai 1787 als „das ungeheuerste Natur- und Kunstwerk“ auf der Insel empfunden hat? Das Teatro Greco aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. könnte genau so gut Römisches Theater heißen, denn 500 Jahre später haben es die Römer zu einer Bühne für ihre Gladiatorenkämpfe umgebaut.

Aber nein, sagt das Schlitzohr, wir besuchen erst meinen Freund Roberto im Laboratorio Pasticceria, nirgendwo auf der Welt wirst du bessere Cannoli finden. Dieses Teiggebäck, meistens mit Mandeln und einer Creme aus Schokolade und Vanille gefüllt, ist eine der vielen süßen Spezialitäten Siziliens, vermutlich vor ewigen Zeiten aus dem Orient importiert. Und bei Roberto, dem Wirt des „Labors“, sind sie in der Tat eine Offenbarung.

Nach zwei oder mehr Cannoli fällt der Weg zu den oberen Rängen des Amphitheaters womöglich etwas schwer. Aber dann: ein Halbrund mit dem Ätna als Kulisse, Europas höchstem und aktivstem Vulkan, auf der anderen Seite das Mittelmeer, dazwischen weiße Villen und mediterrane Vegetation. Und unten auf der Bühne steht Giovanni und demonstriert eine Akustik, so grandios wie das unglaubliche Panorama.

Noch immer wird dieses Theater bespielt, zum Beispiel während des Arte-Festes im heißen Sommer. Dann zieht Taormina die Prominenz in großer Zahl an, ebenso wie bei den Filmfestspielen, die in diesem Jahr zum 60. Male stattfinden. Giovanni weiß von seiner Nonna, seiner Großmutter, was los war im Dorf, als Elizabeth Taylor und Cary Grant, Greta Garbo und Marlene Dietrich die Bars eroberten, damals in den Fünfzigern und Sechzigern.

Goethe war vor über 200 Jahren da, knapp hundert Jahre später auch Kaiserin Elisabeth von Österreich, die Sissi, die extra Altgriechisch gelernt hatte, um die Kultur besser zu verstehen, die an so vielen Orten auf der Insel so großartige Spuren hinterlassen hat. Und als der Berliner Maler Otto Geleng um 1870 die heute weltberühmten Ansichten aus Taormina in Paris ausstellte, hielt man sie für Fantasie-Motive; so überirdisch schön konnte doch kein Ort im damals noch fernen Sizilien sein.

Eine kurze Zeitreise in die längt vergangene Geschichte, zu Palazzi, Barockbrunnen, Kirchen und Klöstern. Eine Pause im herrlich-plüschigen Mocambo, wo wir Espresso unter Oleanderbüschen und Limonenbäumchen schlürfen. Drinnen hat Wirt Roberto Fichera seit 1952 alle Personen an die Wand malen lassen, die ihm wichtig waren auf dieser Welt, Promis, Kellner, Gäste – Charaktere. Eine Wanderung noch, eine Stunde Fußmarsch über einen steilen Pfad ins malerische Bergdorf Castelmola, einen Schluck Mandelwein probieren, einen langer Blick ins Tal hinab, ach, bella Italia ...

Ein Garten Eden aus Feigenkakteen, Agaven und Zypressen

Appetit macht sich bemerkbar, Zeit für ein paar hausgemachte Pasti. Unser Amico, der geduldig auf uns gewartet hat – so kann man sich täuschen –, schlägt die Trattoria der Familie Nicita vor, natürlich gehört auch dieser Clan zu seinen Freunden. Und naturalmente sind die Gnocchi so gut, wie sie offensichtlich schon vor Jahren waren, als sie immerhin in der New York Times gelobt wurden, Nino hat uns stolz den alten Artikel gezeigt.

Ein kurzer Weg durch den immergrünen Stadtpark, danach ein Bummel auf dem Corso Umberto, der Flaniermeile dieser 10.000-Einwohner-Stadt, die im Sommer zuweilen Gefahr läuft, zu Tode geliebt zu werden. Aber noch macht es selbst den als arrogant verrufenen Kellnern im Caffè Wunder-Bar, ein Muss an der Piazza IX Aprile, oder in der fast so berühmten Bam-Bar, Spaß, die süßen Sünden der Region zu erklären: Cannoli, Granite, eine sorbetähnliche Leckerei, und Limoncello.

Vor der Rückfahrt setzt der Amico noch einen drauf. „Einen Blick, wie ihr ihn nicht vergessen werdet“, verspricht er auf der Serpentinenfahrt zum Aussichtspunkt an der Via Guardiola Vecchia. Und wieder hat er nicht übertrieben: vor uns ein Garten Eden aus Feigenkakteen, Agaven, Aleppo-Kiefern, Zypressen und Mimosen in der ersten Blüte. Tief unten ist eine Halbinsel im blauen Meer, mit Badesteg und geheimnisvoller Villa, links und rechts die Kette der Strandbuchten in Richtung Catania. In unserem Rücken „schließt der Ätna das weite, breite Bild ...“, um es mit Goethe aus Giovannis alter Kladde zu sagen, „der ungeheure, dampfende Feuerberg, aber nicht schrecklich, denn die mildernde Atmosphäre zeigt ihn entfernter und sanfter, als er ist“.