Seit 650 Jahren verbindet die Karlsbrücke die Prager Altstadt mit der Kleinseite und führt – gesäumt von Skulpturen und Reliefs – in die Vergangenheit

Wenn ein Prager über diese Brücke geht, dann nicht nur, um von einem Ufer zum anderen zu gelangen. Dafür ist es hier viel zu voll. Ein Prager will auf der Karlsbrücke ein Stück in die Tiefe seiner Stadt vordringen, in eine andere Zeit laufen und womöglich zu sich selbst finden. Es gibt kaum einen tschechischen Schriftsteller, der sich nicht mit der „Karluv most“ beschäftigt hat. Albert Einstein, 1911 für ein Jahr an der Prager Karlsuniversität als Gastdozent tätig, vermutete gar: „Der Weg zum Mond führt über die Karlsbrücke, dann beim Kleinseitener Brückenturm nach links abbiegen.“

Die Statistiker bleiben da sachlicher. Sie errechneten, dass sich über den Rücken dieses gotischen Dinosauriers, auf dem kunstvolle Statuen wie Stacheln emporragen, jährlich so viele Passanten über die Moldau schieben, wie Tschechien Einwohner hat: rund 10,5 Millionen. Das sind im Schnitt knapp 30.000 Menschen pro Tag.

Seit 650 Jahren verbindet die Brü-cke die Prager Altstadt mit der Kleinseite. Ein architektonisches Geniestück – nur in Regensburg und Würzburg gab es im Mittelalter eine vergleichbare Flussüberquerung. Der böhmische König Karl IV. war sich durchaus bewusst, was für ein Projekt er da in Angriff nahm. Er soll seinen Hofastrologen beauftragt haben, den idealen Zeitpunkt des Baubeginns zu bestimmen – im Jahr 1357 am 9. Tag des 7. Monats um 5 Uhr 31. Ein magisches Datum: Die Zahlen hintereinander geschrieben ergeben die Reihe 1-3-5-7-9-7-5-3-1. Ein numerus reciprocus – ob von hinten oder von vorn gelesen, bleibt die Nummernfolge gleich.

Doch das ist Legende, mehr noch: sorgsam konstruierte Legende. Der Mensch im Mittelalter konnte die Zeit noch nicht auf Stunde und Minute genau messen. Wann auch immer der Grundstein tatsächlich gelegt wurde: Karl IV. verpflichtete den berühmten Baumeister Peter Parler aus Schwäbisch Gmünd für die Errichtung der Brücke. Ab 1383 ließ sie sich passieren, doch endgültig fertig wurde sie erst knapp 20 Jahre später – nach 45 Jahren Bauzeit. Sie ist die längste gotische Brücke Europas, misst 516 Meter, ist knapp 10 Meter breit und wird von 16 Pfeilern gestützt.

Karl IV. erlebte ihre Vollendung nicht mehr, doch unter seinen Nachfolgern wurde auf dieser Brücke Geschichte geschrieben. Böhmische Könige schritten hier auf ihrem Weg zur Krönung über die Moldau. Prager Studenten wehrten sich im Dreißigjährigen Krieg gegen den Einfall der Schweden auf die Kleinseite. Hitlers Wehrmacht marschierte unter der ohnmächtigen Wut der Prager hoch zum Hradschin.

Bis 1950 ratterte noch die Tram über das Steinpflaster, 1961 wurde die Brücke für den Autoverkehr gesperrt – seitdem stauen sich die Fußgänger. Und mittendrin, das Bild bestimmend, stehen die Händler mit ihren Souvenirs und all dem Firlefanz, die Karikaturisten und Schnellzeichner. Nach der Wende nahmen sie mit ihren Ständen die Brücke in Beschlag. Der Stadtrat war überfordert und griff schließlich durch. Verkaufslizenzen werden seitdem nicht mehr ausgegeben. Nur wer noch eine hat, darf bleiben, aber neue Händler kommen nicht nach. Die Stände auf der Brücke sind ein Auslaufmodell. Eines Tages wird sie frei von Steinflöten, Kupferstichen und Trödelschmuck sein.

Das Gedränge aber, das mitunter beängstigende Dimensionen annimmt, wird bleiben. Denn die Attraktionen dieser Brücke sind in Stein gemeißelt: 30 Skulpturen mit 58 Statuen und Reliefs reihen sich hier aneinander, unter ihnen Apostel, Inquisitoren, Kirchengelehrte, Märtyrer, Schutzpatrone, sieben Engel, eine Handvoll Sünder, vier Ungläubige, drei Könige, zwei Löwen, ein Hirsch, ein Hund und ein weinender Teufel.

Die Steinheiligen auf der Karlsbrücke, von denen die Statue des heiligen Nepomuk 1683 als erste auf die Brücke kam, sind bildhauerische Meisterstücke von Weltrang, so wertvoll, dass sie längst durch Kopien ersetzt worden sind. Auf der Brücke war es zu gefährlich für sie geworden: durch stärkere Umwelteinflüsse, vor allem Hochwasser. Die Kopien mussten sich dann noch mit ganz anderen Gegnern auseinandersetzen. Immer wieder stürmten junge Rowdys nach kollektivem Besäufnis die Karlsbrücke. So wurden dem heiligen Wenzel ein Finger gebrochen, Johannes dem Täufer die steinerne Nasenspitze abgebissen, aus Nepomuks Heiligenschein die Sterne geklaut. Viele Statuen wurden auf diese Weise beschädigt. Um Vandalen abzuhalten, werden auch die Kopien mit Kameras überwacht.

Dass die Heiligen zu Opfern werden könnten, war undenkbar für die, die sie einst aufstellen ließen. Ganz im Gegenteil: Die Statuen sollten Ungläubige einschüchtern, Ketzern mit dem Fegefeuer drohen, falls sie nicht auf den richtigen Weg des katholischen Glaubens zurückfinden sollten. Böhmen war nach dem Dreißigjährigen Krieg ein Hort von protestantischen Rebellen – und damit dem Papst ein Dorn im Auge.

Den Auftrag, das Land wieder zu stabilisieren, bekamen die spanischen Jesuiten, fromme Mönche einer außergewöhnlich hartgesottenen Sorte und noch dazu tatkräftige Organisatoren. „Um 1556, als die Jesuiten nach Prag kamen, gab es kaum einen Katholiken mehr in Tschechien“, erklärt Professor Jan Royt, Kunsthistoriker an der katholischen Fakultät der Prager Karlsuniversität. „Sie planten die Brücke als einen Büßerlaufsteg des Schreckens. Die Steinheiligen nutzten sie als Propaganda für ihre böhmische Reconquista.“

Jeder, der über die Karlsbrücke geht, kann den Nachhall der Geschichte spüren. Um aber die ganze Wucht des Bauwerks zu erfassen, muss man den gewaltigen Pfeilern nahe kommen, die massigen Bögen von unten betrachten. Man muss hinunter ans Wasser, am besten rauf aufs Boot. An Bord ist man schnell. Direkt an der Brücke, unter dem Altstädter Brückenturm, liegen die „Prager-Venedig“- Fähren, historische Boote, mit denen Touristen über die Moldau und auch unter der Brücke hindurch geschippert werden. Am Anleger steht Zdenek Bergmann. 1993 hat er die Flotte gegründet, heute ist er außerdem Direktor des kleinen Karlsbrückenmuseums am Kreuzherrenplatz. Seinen Seemannsbart hat er an der Oberlippe nach oben gezwirbelt, er schaut auf den Fluss und erinnert sich. Anfang 20 war er, als er dem Stadtrat seine Geschäftsidee vorschlug: ein „Prager Venedig“, historische Fähren über die Moldau. „Niemand hat damals verstanden, was ich will.“ Achselzuckend erteilten ihm die Behörden eine Lizenz für die „Erste allgemeine bootsfahrende Gesellschaft". Man hielt ihn für einen Spinner ohne eine müde Krone in der Tasche – und unterschätzte ihn gründlich.

„Das Startkapital habe ich mir bei der Apfelernte in Südtirol verdient. 42.000 Lire – das reichte damals, um mein erstes Schiff zu bauen.“ Schiffe, wie sie um 1900 auf der Moldau unterwegs waren, jedes bis ins Detail originalgetreu gebaut. Zdenek ist ein Macher. 2009 hat er auch das Wasserfest „Navalis“ wiederbelebt, das schon 1715 gefeiert wurde, aber irgendwann in Vergessenheit geraten war. Jetzt wird wieder regelmäßig am 15. Mai auf der Moldau um die Karlsbrücke herum ein buntes Spektakel veranstaltet: mit einer Regatta und Gondeln aus Venedig, barocker Musik und Feuerwerk. Es ehrt offiziell den heiligen Johannes von Nepomuk – und ist doch auch ein Fest für Prags große Brücke.