Schon seit mehr als 60 Jahren fährt der Inder Kanahi Halak in seinem Boot Besucher über Indiens heiligen Strom

Einheimische Fahrgäste jeglicher Herkunft beneiden den alten Mann, der sie abends zur Aarti-Zeremonie in die Mitte des großen Flusses bringt, um dort Öllämpchen in den Ganges zu setzen, ein Feueropfer, ein Wunschritual. Sie, die gläubigen Hindus, die aus allen Teilen des riesigen Landes kommen, um wenigstens einmal im Leben den Göttern des Ganges zu huldigen, sehen in Kanahi Halak nicht den Rudersmann, der sich für sie in die Riemen legt, sondern einen privilegierten Sohn der Mutter Ganga, wie sie den Strom nennen.

Und so sieht sich auch Kanahi, der seit über sechzig Jahren an den Tempeln, Stufen, Verbrennungsplätzen und Opferschreinen entlang rudert, morgens in den Sonnenaufgang hinein, sowie abends, wenn der Fluss mit Tausenden schwimmender Lichterschiffchen illuminiert ist.

Die Dämmerung ist kurz in Varanasi, der heiligen Stadt, die früher bei uns besser unter dem anglisierten Namen Benares bekannt war. Über die vielen Stufen, Ghats genannt, gehen die Menschen gemessenen Schrittes dem Fluss entgegen. Sechzig, siebzig, schließlich hundert und mehr Boote, so kleine wie das von Kanahi, große für die Gruppen, besetzt mit zwanzig oder dreißig Touristen von weit her, gleiten in die Dunkelheit.

An den Ghats lodern, wie jeden Tag und zu jeder Stunde, die Feuer, auf denen die Glücklichen verbrannt werden, die es am Ende ihres Lebens bis zum heiligsten aller heiligen Flüsse Indiens geschafft haben.

Wir sind mit Kanahi und unserem Hindufreund aus Varanasi, der für uns dolmetscht, allein auf dem Boot, etwas abseits der Armada, auf denen jetzt die ersten Lichter entzündet werden. Vor ein paar Minuten, kurz nach dem Ablegen vom Shivala Ghat, war ein kleiner Junge aufs Boot gesprungen und hatte jedem von uns zwei Öllämpchen verkauft, Tonschalen, sogenannte Diya, auf einer Blüte ruhend.

Kanahi und der Freund nicken zustimmend, wir zünden die Lichter an und setzen sie behutsam ins Wasser. Die beiden Inder sprechen leise das Om-Mantra, das dem kosmischen Urklang nachempfunden sein soll. Lange schauen wir unseren blakenden Schiffchen nach, bis wir sie nicht mehr von denen der anderen unterscheiden können, bis sie irgendwann, irgendwo mit dem dunklen Fluss verschmelzen. Es ist nicht die Stunde, um mit Kanahi Halakins ins Gespräch zu kommen. Zu sehr hat uns die Szenerie berührt.

Gut zwölf Stunden später ist Kanahi wieder zur Stelle. Die Fahrt in den Sonnenaufgang steht an, nicht weniger faszinierend als die Aarti-Zeremonie am Abend. Auf den Stufen und direkt am Ufer, oft bis zur Brust im Wasser, warten die Gläubigen zu Tausenden, dass Brahma, der Schöpfergott, die Sonne aus den heiligen Fluten hebt. Wieder lassen Mantras den Fluss und seine Ufer zu einer magischen Bühne werden.

Kanahi gehört nicht direkt einer der unteren Kasten an. Eher muss man von einer Art Zunft sprechen, einer Berufsgruppe. Der 68-Jährige hat sechs Kinder und über zwanzig Enkel. Er lebt vor allem vom Trinkgeld seiner „Passagiere“. Die Hälfte der Einnahmen muss er dem Bootseigner abgeben. Der hat noch mehr als vierzig solcher Schaluppen auf dem Ganges schwimmen. Unser einheimischer Freund, der schon oft mit Kanahi unterwegs war, meint, dass dieser in unseren Augen vielleicht ein armer Mann sei.

Aber er habe keine materiellen Sorgen. Im Gegenteil: Ein glücklicher Mann sei er, der Rudersmann der Ganges-Götter: Jeden Tag habe er Gelegenheit, wonach es Millionen Inder ein Leben lang dürstet: das heilige Wasser dieses Flusses zu trinken, von seinen Fluten gewiegt zu werden und die Sonne über ihm auf- und wieder untergehen zu sehen, bis eines Tages der Strom seine Asche aufnehmen wird.