Um Argentinien kennenzulernen, muss man nicht wochenlang reisen. Von Buenos Aires aus gibt es viele Ziele für einen Tagesausflug

Der Spreewald in Argentinien, wer hätte das gedacht. Nur ohne Gurken und deutlich wärmer. Wir fahren auf einer Lancha durch die Kanäle des Tigredeltas. Am Ufer stehen kleine Häuser auf Stelzen, alle tragen Namen anstatt Nummern: Paraïso, Caviar, Samba oder Utopia. Die Pfahlbauten in der Sumpfregion sind nur mit dem Boot zu erreichen, es gibt keine Straßen, keine Autos, dafür zahlreiche auch alte europäische Ruderclubs und jede Form von Fortbewegungsmitteln, die auf dem Wasser funktionieren: Kajaks, Jetskis, Schwimmreifen, Poolnudeln und eben vor allem die Lanchas, die Taxiboote.

Drinnen sitzen die Leute dicht an dicht, es riecht nach Churros, frittiertem Teig, und auf dem Dach des Schiffes lagern Vorräte. Am wichtigsten ist genug Wasser, unzählige Kanister haben die Passagiere angeschleppt, um sie zu ihren Häusern zu bringen. Legt ein Taxiboot vom Hafen in Tigre ab, hat es über sich fast genauso viel Wasser wie unter sich. Tief liegt es im Fluss, denn jeder scheint Lebensmittel für zehn Familien zu transportieren. Zwar gibt es auch ein Versorgungsboot, das als schwimmender Supermarkt durch die Kanäle gondelt, aber die Preise sind doppelt so hoch wie auf dem Festland. Praktisch erscheint es allerdings schon, wenn man zum Beispiel Zutaten fürs Frühstück vergessen hat und sie dann mit dem Versorgungsboot herbeischwimmen sieht. Das Tigredelta ist ein Land, wo Milch und Honig fließen. Und alle dürfen ausschlafen. Weil jedes Kind morgens mit dem Schulboot eingesammelt werden muss, beginnt der Unterricht erst um zehn Uhr.

Hilfreich finden die Bewohner auch das Müllschiff. Früher mussten sie ihre Abfälle selbst aufs Land bringen, da landete viel „versehentlich“ im Fluss, heute werden die Säcke abgeholt. Dennoch drängt sich beim Blick auf die Farbe des Flusses der Eindruck auf, dass der eine oder andere den Service des Müllschiffes noch nicht zu nutzen weiß. Kulinarisch ausgedrückt könnte man die Wasserfarbe mit Cappuccino beschreiben; doch ein ehrliches Dreckbraun trifft die Sache besser. Nein, beruhigen alle, die Qualität des Wassers sei hervorragend, die Farbe komme lediglich vom vielen eisenhaltigen Schlamm, der sich im Delta sammelt. „Ich bin hier mein ganzes Leben geschwommen und nie krank geworden,“ sagt Nicole Heynen. Zum Haare waschen nimmt sie Shampoo, verteilt es auf dem Kopf und springt in den Fluss. Alles sei so einfach hier, so erholsam. Die 40-Jährige und ihr Bruder besitzen ein Wochenendhaus im Delta, als Kind waren sie regelmäßig mit ihren Eltern hier, beide Einwanderer aus Europa.

Nicole Heynens Vater kommt aus Deutschland, daher verbrachte sie 1989 ein Schuljahr bei ihrem deutschen Patenonkel in Hamburg. Sie habe sich immer gewundert, warum dort alle die Elbe als großen Fluss bezeichneten, sagt Heynen, und im Vergleich zum Rio de la Plata, der an einigen Stellen mehr als 200 Kilometer breit ist, hat sie natürlich Recht. Man könnte aber auch argumentieren, dass der Rio de la Plata eigentlich kein Fluss, sondern schon ein Meer sei, weil man nie das andere Ufer sieht. Ein Angeber-Fluss in jedem Fall, der sich in Größe und Farbe vertan hat. In M anstatt in XXL und in Blau anstatt in Braun würde er gewiss noch besser wirken, aber das scheint er gar nicht nötig zu haben.

Das 35 Kilometer nördlich von Buenos Aires gelegene Delta gehört zu den beliebtesten Wochenendausflügen der Porteños, wie man die Einwohner von Buenos Aires nennt. Auf dem Weg dahin sollte man in San Isidro stoppen und in die neugotische Kathedrale gehen, nach der Kathedrale am Plaza de Mayo immerhin die zweitwichtigste der ganzen Gegend. Hier draußen leben viele strenggläubige Katholiken, sechs bis sieben Kinder in einer Familie sind keine Seltenheit, auf die Privatschulen gehen Jungs und Mädchen nach Geschlechtern getrennt. Interessant anzusehen sind die restaurierte Villa der Schriftstellerin Victoria Ocampo sowie die Quinta Los Ombues, ein altes Landhaus. Von dort schaut man hinunter auf eines der reichsten Viertel der Stadt, wo sich die Bewohner straßenweise einen Nachtwächter leisten, der mit Einbruch der Dunkelheit in einem telefonzellenartigen Häuschen Platz nimmt.

Von Madonna über Maradonna bis zu Nachtwächtern in Telefonzellen

Einbrüche kommen vor, dennoch ist Buenos Aires keine gefährliche Stadt. Problemlos spaziert man zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten: zum Grabmal von Evita auf dem Recoleta Friedhof, zur Casa Rosada, von dessen Balkon aus Evita zu den Menschen sprach (berühmt geworden durch Madonnas Musicalfilm „Evita“), zum Stadion La Boca (berühmt geworden durch Maradona), zum Puerto Madero mit seiner schicken Brücke der Frauen oder zum Teatro Colón. Das Konzerthaus strahlt eine solche Kraft aus, dass man es zum ersten Mal am besten außerhalb einer Vorstellung besucht, sonst würde man durch die Schönheit der Klänge hinweggefegt.

Für den Hamburg-Repräsentanten Matthias Kleinhempel stellt es das imposanteste Gebäude der Stadt dar: „Natürlich weiß niemand genau, wie teuer sein Bau war. Dadurch unterscheidet es sich von der Elbphilharmonie.“ Sollte diese je fertig werden, wird Kleinhempel Buenos Aires sofort gen Hamburg verlassen, um dort in ein Konzert zu gehen. „Am liebsten nähme ich das Orchester von hier gleich mit.“ Das wäre dann ein ganzes Flugzeug voller Violinisten, Trompetern und Cellisten. Musik fliegt in der Luft.

Schade, dass man nach einer Verzauberung im Colón wieder raus muss auf die Straßen mit ihren Staus, also lieber hinaus aus der Stadt auf eine Estanzia. Ein Dia del Campo, ein Tag auf dem Land, gehört zu den typischen Wochenendbeschäftigungen der Porteños. Nach der Enge der Stadt wartet hier die Weite des riesigen Landes, und man kommt der Seele der argentinischen Kultur näher, den Gauchos. Der Berufsstand entwickelte sich, als die Spanier vor Jahrhunderten ihr Vieh auf die Pampa trieben. Die nomadischen Reiter bewachten die Herden und schlugen sich ansonsten als einsame Cowboys durch. Ein Mann, ein Pferd – mehr brauchte es nicht zum Glücklichsein, eine Tradition, die heute sehr romantisch und verklärt daherkommt. Natürlich gibt es sie noch, aber die modernen Gauchos sind festangestellte Landarbeiter, die selten ihren Wohnort wechseln. „Wieso soll ich hier weg? Nein, ich bin schon immer hier, hier bleibe ich,“ sagt Oswaldo, der ansonsten wenig redet, aber den Pferden ins Ohr flüstert, sie mögen bitte die Touristen nicht abwerfen. Oswaldo arbeitet auf der Estancia La Candelaria del Monte, gut 100 Kilometer entfernt von Buenos Aires. Zwar wird hier noch Viehzucht betrieben, hauptsächlich stellt die Candelaria jedoch einen Erholungsort für gestresste Argentinier oder Touristen dar.

Ein beliebter Tagesausflug von Buenos Aires führt ins Ausland, nach Uruguay. Mit der Fähre nur 50 Kilometer entfernt liegt Colonia del Sacramento. Eine malerische Stadt am Ostufer des Rio de la Plata, die von der Unesco ins Weltkulturerbe aufgenommen wurde. Die Altstadtgassen werden gesäumt von riesigen Platanen, nichts für Allergiker, aber wunderschön. Am Wochenende tritt man sich hier gegenseitig auf die Sandalen, aber unter der Woche fühlt man sich in Colonia ein bisschen wie in einer Stadt vor unserer Zeit.

Touristen sollten ihre Euro nicht bei der Bank tauschen, sondern im Eisladen

Durch das Tor aus dem Jahr 1745 erreicht man das historische Viertel, und dann kann man genau drei Dinge tun: über das Kopfsteinpflaster von einer kleinen Boutique zur nächsten schlendern, das bekannteste Wahrzeichen der Stadt, den Leuchtturm, erklimmen, oder auf den beiden Hauptplätzen, dem Plaza Mayor und dem Plaza de Armas einen Hauch von Geschichte erspüren.

100 Jahre lang war Colonia der Zankapfel der Kolonialmächte Spanien und Portugal. 1680 wurde die kleine Stadt vom portugiesischen Gouverneur Manuel Lobo gegründet, exakt gegenüber vom spanischen Buenos Aires, also an einer strategisch wichtigen Position des Flusses, und fortan gingen die Eifersüchteleien und Kämpfe los. 1777 schließlich siegten die Spanier.

Heute gehört Colonia zu Uruguay, dem kleinsten spanischsprachigen Land Südamerikas, das bei Reisenden immer ein bisschen links liegen gelassen wird, bei den Argentiniern jedoch eine große Rolle spielt für die Devisenbeschaffung. Die seltsame Geldpolitik der Staatspräsidentin Cristina Kirchner, von allen auf ihren Wunsch hin gerne nur beim Vornamen genannt, hat zu zwei verschiedenen Wechselkursen geführt. Kein Argentinier kann sich bei offiziellen Banken Dollar oder Euro besorgen, die wegen der Inflation jedoch sehr begehrt sind. Also was tun? Ein Fährticket nach Colonia buchen, das kostet rund 50 Euro, und in knapp einer Stunde ist man in Uruguay, weitere fünf Minuten später an einem Bankautomaten, wo man Dollar abheben kann.

Touristen in Buenos Aires sollten keine Hemmungen haben, ihre Euro an einer nichtoffiziellen Stelle zu tauschen. Einfach in die Calle Florida gehen und den Rufen „Cambio!“ folgen. Da landet man dann vielleicht in einem Eisladen, aber keine Sorge: Neben Vanillekugeln bekommen man dort auch Pesos. Das gibt es nur in Argentinien: Geld, das auf der Zunge zergeht.