Mehr als sein halbes Leben verbrachte der große Reformator im kleinen Wittenberg. Ein historischer Spaziergang durch seine Heimatstadt

„Da erzählen meine Schäfchen nun in der Beichte, dass sie viel Schlimmes wieder getan hätten“, berichtet Dr. Martin Luther seinen Zuhörern vor der berühmten Thesentür. „Und dann zeigen sie mir stolz den Ablassbrief und sagen, sie hätten alle Sünden schon bezahlt.“ Und wie sein echter Vorgänger vor fast 500 Jahren wettert sein moderner Darsteller Kirchmeister Bernhard Naumann gegen den Dominikanermönch Johann Tetzel, der im nahen Jüterbog einen höchst profitablen Handel mit Ablassbriefen betreibt.

„Alles schon bezahlt?“, donnert der Mann im schwarzen Gewand: „Wie können diese Schafe nur glauben, dass man um ein paar Gulden und durch einen Fetzen Papier seiner Sünden ledig wird? Hat nicht unser Herr Jesus Christus einst gesagt: Tut Buße? Und meint er damit nicht, dass das ganze Leben des Christen Buße sein soll?“ Eben noch grimmig, grinst Luther plötzlich verschmitzt in die Runde. „Das war mein erster guter Satz. Jetzt musste ich bloß noch 94 weitere schreiben.“

Bernhard Naumann, der tagsüber seiner Arbeit in der Stadtkirche nachgeht, hat sichtlich Freude an solcher Art der Touristenführung. Diese beginnt an der Tür der Wittenberger Schlosskirche, wo Luther am 31. Oktober 1517 die Welt der Christenheit grundlegend umkrempelte. Dabei ist das, was er an die Kirchentür schlägt, eigentlich nur Vorlage für ein akademisches Streitgespräch.

Die Wittenberger Schlosskirche ist eine Gedächtniskirche für die Reformation

Hinter Luthers Rücken jedoch werden die 95 Thesen ins Deutsche übersetzt und ohne seine Einwilligung gedruckt. Wie ein Buschbrand breiten sie sich fortan aus, bald ist halb Europa mit dem unerhörten Gedankengut infiziert. Luthers hölzerne Thesentür verbrennt 1760, der bronzene Nachfolger mit den eingravierten Thesen entsteht knapp hundert Jahre später.

Seit 1885 ist das Gotteshaus eine Gedächtniskirche für die gesamte Reformation. So prangt vom Kirchturm die Titelzeile des Psalms „Ein feste Burg ist unser Gott“. Von den Säulen blicken Luther, Melanchthon und sieben weitere Reformatoren herab. Die Wände zieren Medaillons etwa von Cranach, Dürer, Calvin, Zwingli und Meistersinger Hans Sachs, der das Gedicht von der Wittenberger Nachtigall schrieb. Von den Balustraden grüßen die Wappen von Königen, Fürsten und Rittern, die dem neuen Glauben gewogen waren, und in den Kirchenfenstern sind Städte verewigt, die zu Hochburgen der Reformation wurden.

Nicht zuletzt sind da die Gräber von Melanchthon und Luther, der 1546 hier beigesetzt wird. Als im Jahr darauf Kaiser Karl V. in der Kirche weilt und der Herzog von Alba fordert, die Gebeine des Erzketzers ausgraben und verbrennen zu lassen, verkündet Karl mit feierlichem Ernst: „Lasset ihn liegen, ich führe keinen Krieg mit Toten.“ Auf dem Weg zum Markt sind die Höfe des Luther-Freundes Lucas Cranach die nächste wichtige Station. Denn hier malte der „Fotograf der Reformation“ nicht nur viele seiner berühmten Gemälde, hier besaß er auch eine Druckerei.

Das Refektorium mit der großartigen Zehn-Gebote-Tafel von Lucas Cranach

„In diesen Räumen wurde im September 1522 der erste Bestseller Europas gedruckt“, erzählt Andreas Metschke, der hier eine historische Druckerstube betreibt. Das auf der Wartburg übersetzte Neue Testament nämlich erscheint in einer astronomischen Startauflage von 3000 Exemplaren und verkauft sich binnen zwei Wochen komplett – und das trotz des Preises von eineinhalb Gulden, immerhin der Wert von anderthalb Schweinen. Schon im Dezember 1522 wird deshalb die zweite Auflage gedruckt.

Fortan kommen die Drucker kaum noch hinterher. Jedermann will Bilder von Luther, und auch die Bibel-Bögen gehen wie geschnitten Brot. Denn damit lernen die einfachen Leute jetzt sogar Lesen und Schreiben. Wie Luthers Ideen tausendfach Verbreitung finden, wird in dieser Werkstatt jedenfalls überaus plastisch.

Aber schon zieht Luther/Naumann zügigen Schrittes zum Marktplatz. Ein Blick auf das schöne Renaissance-Rathaus, ein Gruß zu seinem bronzenen Abbild, dann schon betritt er St. Marien mit dem markanten Doppelturm, „wo ich in 34 Jahren über 2000 Mal gepredigt habe.“ Glanzstück ist der von Lucas Cranach und seinem Sohn gemalte Reformationsaltar. Er stellt die Grundzüge des evangelischen Gemeindelebens und des reformatorischen Kirchenverständnisses dar: Kirche ist da, wo getauft wird. Kirche ist da, wo sich die Gemeinde zum Abendmahl versammelt. Kirche ist da, wo Beichte gehört und Vergebung zugesprochen wird. Zugleich porträtieren die Maler die Hauptakteure der Wittenberger Reformation: Luther auf der Kanzel, Melanchthon bei der Taufe, Bugenhagen bei der Beichte. Am Abendmahlstisch sitzt Christus mit seinen Brüdern als Gleicher unter Gleichen, unter ihnen Martin Luther als Junker Jörg.

Dessen legendäre Kanzel wiederum ist im Lutherhaus zu bewundern, seit 1996 Unesco-Welterbe wie Schloss- und Stadtkirche sowie das Wohnhaus von Philipp Melanchthon. Im Lutherhaus wohnt der Reformator fast 35 Jahre lang. Hier arbeitet er als Professor der Theologie, hier schreibt und disputiert er, hier hält er Vorlesungen vor Studenten aus ganz Europa. Im größten reformationsgeschichtlichen Museum der Welt werden sein Leben, Werk und Wirken in eindrucksvollen Räumen und anhand herausragender Exponate anschaulich. Da ist die weitgehend originale Lutherstube, die wie kein anderer Ort die Aura der Reformation atmet. Das Refektorium mit der großartigen Zehn-Gebote-Tafel von Lucas Cranach. Der Hörsaal mit dem hölzernen Disputationskatheder. Oder die 1534 in Wittenberg gedruckte Erstausgabe der vollständigen Lutherbibel, ein fünf Kilogramm schweres Prachtstück. „Sogar meinen Lokus haben sie hier vor einigen Jahren gefunden“, lacht Freund Luther.

Stimmt. 2004 entdeckten Archäologen bei Ausgrabungen am Lutherhaus einen Sitz aus Stein mit Abfluss und befeuerten damit kräftig die Spekulationen der Experten, ob der chronisch verstopfte Mönch seine zentrale reformatorische Erkenntnis denn nun wirklich auf dem Abort gewonnen habe. Auch die Frage aller Fragen nach Fakt oder Fiktion des Thesenanschlags ist noch immer nicht hundertprozentig geklärt. Jüngsten Forschungen zufolge soll Luther die Thesen sogar an die Türen aller Wittenberger Kirchen geschlagen haben. Mein Stadtführer Luther lächelt: „Nur Gott und ich wissen das ganz genau.“