Bergpanorama, Kässpätzle, zünftige Musik: So stellt man sich Urlaub im Allgäu vor. Doch es geht auch anders – wenn Gäste ohne Partner reisen

Wenn man in den Whirlpool steigt, ist er oft schon da. Ein braun gebrannter älterer Herr, mit einem Lächeln auf den Lippen und Schalk in den Augen. „Ich habe Sie hier noch nie gesehen“, beginnt er die Unterhaltung und kommt schnell zum Thema. Wunderschön sei die Frau, die er da vor sich sehe, erst recht ohne Brille. „Sie sehen ganz anders aus ohne das Gestell, das macht Sie viel weicher. Fürs Anbandeln sollten Sie keine Brille tragen, hören Sie auf mich!“

Der Herr muss es wissen. Er kennt sich aus mit den Regeln in Oberstaufen. Er gehöre zum Haus, sagt er, und man erfährt, dass er kein anderer ist als Levinger senior, Vater von Manuel Levinger, Chef des Hotels Allgäu Sonne. Seit 30 Jahren ist das Fünf-Sterne-Haus im Familienbesitz. Während andere Hotels der Region mit gepflegter Gastlichkeit oder schierem Luxus locken, hat sich das Hotel auf dem Stießberg der Lebenslust verschrieben. Entspannt geht es hier zu – und gesellig. Wer für sich bleiben will, hat es schwer, und genau deswegen ist das Haus ein beliebter Treffpunkt für Alleinreisende.

Ein praller Veranstaltungskalender bietet den Gästen Gelegenheit zum Kennenlernen. Im Winter sind ein Skilanglauf-Schnupperkurs, eine Schneeschuh-Wanderung oder eine Pferdeschlittenfahrt im Angebot, vom Frühling bis zum Herbst gibt es Radfahren, Tennis oder Wandern. Wer noch mehr Sport treiben will, macht in den Fitnessräumen Zumba mit Susi oder stellt sich aufs Laufband, Alpenpanorama inklusive. Am Abend geht’s ins Dampfbad, zum Galadinner oder zum Cocktail-Mixkurs.

Renate, Witwe, drei erwachsene Kinder, kommt schon seit Jahrzehnten nach Oberstaufen. Sie trägt pinkfarbenen Lippenstift und ebensolche Nägel zum rot-schwarzen Mieder, auf dem Dekolleté ruht eine schwere Halskette aus transparenten Kristallen. Sie kann noch von den Zeiten erzählen, als die Münchner Schickeria sich in Oberstaufen traf und sich morgens hinter den Almhütten die Champagnerflaschen bergeweise häuften. Ein Presseartikel vertrieb Ende der 90er-Jahre die auf Exklusivität bedachten oberen Zehntausend. „Wer lieben will und saufen, der fährt nach Oberstaufen. Die Dicken und die Doofen, die sind in Wörishofen“: Diesen wenig charmanten Satz aus dem Artikel zitiert man noch heute.

Renate zuckt mit den Achseln. Sie ist dem Dörfchen treu geblieben, so wie viele andere. Hier weiß sie, wo sie hingehen muss, um sich zu amüsieren. In Charly’s Bistro im Dorf steht man dicht an dicht, auf dem „Ponyhof“ wird schon ab mittags geschwoft. Einen Drink gibt es an der Hausbar des Hotels Allgäu Sonne, dem Stießbergstüberl. Wenn man Glück hat, auch mehr. Ach, aber eigentlich will sie im Urlaub nichts mehr anfangen, sagt sie, „gibt nach zwei, drei Wochen nur Herzschmerz“.

Das sagen sie hier alle. Und sind dann doch abends im Stießbergstüberl und schielen nach links und rechts. So wie Gaby und Ute, beide Ende 50. Sie sitzen am Tresen, vor sich ein Glas Champagner. „Was trinken Sie denn da?“, fragt Gaby, in ihrer Heimat Vorstand des Karnevalsvereins und routinierte Strippenzieherin. Wenn man sich bisher noch nicht kannte, dann kennt man sich jetzt.

Auch Gaby und Ute kennen sich noch nicht lange. Genauer gesagt erst seit gestern. Aber damit lange genug, um gemeinsame Interessen entdeckt zu haben. Tanzen wollen beide, schließlich gibt es jeden Abend Live-Musik. Heute spielt das Duo Carlos & Thomas. Die jungen Männer tragen weiße Lackslipper und wippen zu Modern Talking synchron an ihren Keyboards. Die ersten Pärchen haben sich gefunden und schieben übers Parkett. Gaby, ledig, goldenes Haar, goldenes Herz, würde gern mit dem Schweizer in der Ecke tanzen, Schweizer gibt es hier viele, aber leider tanzen sie nicht, weiß Gaby. Gut, dass Klaus sich traut. Der Endfünfziger ist mit seinem Freund Hans hier, zum 30.Mal, sagt er. Früher kam er mit dem Motorrad, heute mit dem Auto. Es ist ein Porsche, nicht sein einziger, lässt er durchblicken, und dass er ein erfolgreicher Bauunternehmer sei. Gaby, die mit einem roten Mazda gekommen ist, wirkt interessiert. Leider ist Klaus verheiratet. Auch Michael, 61, hat Frau und Kinder. Aber er spricht so wunderschön bayerisch, und Gaby liebt Bayern. Ihre Zimmernummer mag sie Michael dann aber doch nicht verraten.

Egal, es wird ein gelungener Abend. Das findet auch Ute, die sich gestern noch gefragt hat, warum sie eigentlich hergekommen ist. Ute, Geschäftsfrau, geschieden, mag das Single-Leben und tiefgründige Gespräche lieber als Small Talk. Der Atmosphäre an der Hausbar kann aber auch sie nicht widerstehen. Hier amüsieren sich Fremde mit Fremden, aber man hat das Gefühl, alle schon lange zu kennen und dazuzugehören.

Dieses Gefühl begleitet den Gast auch in der Physio-Abteilung. Rezeptionistin Anita ist begeistert, als sie erfährt, dass ihr Gegenüber aus Berlin kommt. In Berlin gebe es die weltbesten Kässpätzle, behauptet sie. Die mache dort der Florian in seinem Food Truck „Heißer Hobel“, mit Bergkäse aus der familieneigenen Käserei im Allgäu. Man solle bei der Rückkehr schön von der Anita grüßen. Die Anwendung, eine Nachtkerzencreme-Packung, wird professionell durchgeführt. Die Essenz wird mit Ziegenbutter gemischt und am ganzen Körper kräftig einmassiert. Dann kommt der Gast zu sanften Klängen ins wärmende Wasserbett.

Hotelchef Manuel Levinger freut sich, wenn Alleinreisende in der Allgäu Sonne entspannen und Anschluss finden. Mehr als 70 Einzelzimmer gibt es in seinem Haus. „Es gibt viele einsame Menschen, die müssen sich ja irgendwie kennenlernen“, sagt er. „Und wo viele Familien und Paare hinreisen, da kommen sich Alleinreisende oft dumm vor und finden kaum Kontakt.“ Etwa die Hälfte seiner Gäste kommt ohne Begleitung, sagt er, schon wegen der vielen Kur- und Gesundheitsreisen. In seinem Hotel werden nach Vorlage ärztlicher Verordnungen auch Therapien und Rehamaßnahmen durchgeführt. Ernährungs- und Entschlackungsprogramm sind ebenso im Angebot. Oberstaufen ist bekannt für Schrothkuren, eine Kombination aus Diät, feuchtkalten Wickeln, Ruhe und Bewegung, die den Körper entlasten und entgiften soll.

Man erkennt die Kurenden daran, dass sie ein bisschen weniger lächeln als die anderen Gäste. Die Schrothkur sei anstrengend, sagt Jochen, Polohemd, Schnauzer. Zum Frühstück gibt’s nur ein Knäckebrot, und schlafen muss er viel. Einmal jährlich unterzieht er sich der Prozedur. Sieben Kilo nimmt er ab und kommt sogar noch an die frische Luft. Dafür sorgt Hans. An jedem Wochentag holt der Wander- und Tourenführer Urlauber zu einem Ausflug in die Umgebung ab.

Heute geht es in die Nachbargemeinde Sulzberg im österreichischen Vorarlberg. Der Kleinbus des Hotels hält am Fuße des Rundwegs, der durch einen würzig duftenden Fichtenwald führt. Brigitte, 70, Friseurmeisterin, breitet beim Laufen die Arme aus. „Ist das herrlich hier!“, ruft sie aus und atmet tief ein. Eineinhalb Stunden sind für die Wanderung veranschlagt. „Es darf nicht zu lang und zu anstrengend sein“, erklärt Hans, „es soll ja jeder mitkommen können.“ Außerdem gibt es Termine. Anne hat um 16.30 Uhr ihre nächste Anwendung, und Gaby will nicht auf die abschließende Einkehr im Gasthof Alpenblick verzichten.

Zurück im Dorf, lädt die Fußgängerzone zu einem Bummel ein. Juweliere, Cafés und Boutiquen reihen sich aneinander. Gleich mehrere Läden führen zünftige Bekleidung. Bei Caprice biegen sich die Stangen unter dem üppigen Dirndl-Angebot. Wer nicht widerstehen kann, wird charmant beraten. Die Verkäuferin in knapper Lederhose zieht mit geübtem Blick Modelle heraus und das Passende für drunter gleich mit: „Da muss ein Dirnd-BH her!“ Die Luft im Laden ist Prosecco-geschwängert. Drei Damen suchen ebenfalls nach figurformenden Klamotten. Die gewählten Lederhosen sind zwar zu eng, aber die rüschige Bluse da, heißt es mit Blick zur Umkleidekabine nebenan, die sei doch einfach süß! Und überhaupt, das violette Dirndl, das stehe der Besucherin noch besser als das grüne! Schon steht die Verkäuferin in der zweiten Reihe, und man wähnt sich auf einer Shopping-Tour mit Freundinnen. Klar, man ist ja in Oberstaufen.

Es wird Abend. Die Hotelauffahrt der Allgäu Sonne ist zugeparkt. Aus einem schwarzen Porsche steigt ein Double der Geissens, des „schrecklich glamourösen“ Ehepaars aus der gleichnamigen Doku-Soap. Die Gattin mit der Toupet-Frisur mahnt schrill das korrekte Verriegeln des Wagens an, während der Gatte sein halblanges Haar nach hinten streicht und mit dem Ellbogen Staub vom glänzenden Lack entfernt. Man wird die beiden abends im Stießbergstüberl wiedertreffen. So wie all die liebenswürdigen Bekannten, die man über die Tage kennengelernt hat, und noch einige mehr. Hermann zum Beispiel, den Arzt vom Bodensee, der im Hotel eine Fortbildung hatte und so gern Komplimente verteilt. Oder Bernie, die weiß, dass in der nächsten Woche „die Zicken anreisen“ – Damenclubs, die ihr Revier in Oberstaufen regelmäßig verteidigen und nicht so freundlich mit der weiblichen Konkurrenz umgehen.

Brigitte kann darüber nur lachen. Sie hat schon viel erlebt und verloren, hier und heute kann sie nur gewinnen. Es dauert nicht lange, da wird sie zum Tanz aufgefordert. Mit strahlendem Gesicht dreht sich die 70-Jährige auf dem Parkett. Derweil wiegt sich Renate, die Witwe mit dem rot-schwarzen Mieder, am Rand der Tanzfläche selig lächelnd in den Armen eines etwas jüngeren Herrn im Karohemd. Sie, die doch eigentlich „nichts anfangen“ wollte, wird dann doch noch die Telefonnummern mit dem Geschäftsmann aus Konstanz austauschen, „mal schauen, was daraus wird“.

„Damenwahl!“, ruft Gaby. Zielstrebig steuert sie auf den hoch gewachsenen Herrn in der Ecke zu. Vielleicht kann er doch tanzen, obwohl er aus der Schweiz kommt. Alles scheint möglich in Oberstaufen, und wer nicht dabei ist, könnte etwas verpassen. Deshalb kommen sie alle wieder. „Bis nächstes Jahr“, sagt Gaby beim Abschied. Über dem Tal liegt Nebel. Nachmittags wird er sich lichten, wenn Hans mit der nächsten Gruppe zum Wandern aufbricht.