In China prallen wohl wie in keinem anderen Land der Erde Geschichte, Moderne und Kultur so ungeniert aufeinander und werden derart inszeniert

Es war Andrea, die zum ersten Mal diesen Begriff erwähnte, den sie in einem chinesisch-deutschen Onlinewörterbuch gefunden hatte: Jü Hui, was so viel heißt wie „Gemeinschaftssinn“ oder „Gruppengefühl“. Oder, ganz frei übersetzt auch: „Los, los, wir müssen weiter! Zum Vordermann aufschließen.“

Das war an einer Tankstelle, mitten im Nirgendwo an der Autobahn zwischen Feng-Dings und Dings-Xhao, weil zwei Mitglieder unserer Reisegruppe auf die Toilette mussten und unser Reiseführer Herr Li wusste, dass es an dieser Tankstelle eine „Fünf-Sterne-Toilette“ gab, was bedeutet, dass die verwöhnte Langnase in einer Kabine hocken kann, deren Tür zumindest vorhanden ist und die sich im günstigsten Fall sogar noch schließen lässt.

Herr Li, dessen hervorragende Deutschkenntnisse sich auf ein mehrjähriges BWL-Studium in Heidelberg zurückführen lassen, der jetzt als Reiseführer für das staatliche Fremdenverkehrsbüro dieser Provinz arbeitet, weiß, was in Henan los ist, warum und wie alt und wichtig jede Sehenswürdigkeit ist. Ohne Guide wären Touristen in diesem unfassbar großen, weiten, heißen, überfüllten, lauten, wuseligen Land vermutlich verloren. Wer durchs Reich der Mitte reist, kann getrost all seine Vorstellungen zu Hause lassen, die er aus dem Fernsehen kennt. Denn die chinesische Wirklichkeit ist vermutlich erbarmungsloser, als Bruce Lee es jemals war. Interessanter aber auch.

Der Gelbe Fluss führt Milliarden von Tonnen Sediment mit sich

Unsere Reise begann in Sanmenxia, einer kleineren Gemeinde am Huang He, dem „Gelben Fluss“, dessen Ufer vor Tausenden von Jahren von Menschen besiedelt wurden, weshalb die Provinz Henan auch als „die Wiege der chinesischen Nation“ bezeichnet wird. Der Staudamm in der nahen Drei-Tore-Schlucht, in den 50er- und 60er-Jahren ein Prestigeobjekt der Kommunistischen Partei, stellt das zeitliche Ende dieser Entwicklung dar. Dieses Bauwerk, noch immer eine der größten Talsperren der Welt, darf heute besichtigt werden, und Herr Li kann selbstverständlich erzählen, dass der Speicherraum 35,4 Milliarden Kubikmeter Wasser fasst. Es war sogar mal auf knapp 70Milliarden Kubikmeter angelegt, aber daraus wurde nichts, denn man fand rasch heraus, dass das Staubecken jedes Jahr umständlich gespült und so von mehreren Milliarden Tonnen Sediment befreit werden muss, die der Gelbe Fluss auf seinem langen Weg von der Quelle im Gebirgszug Bayankara in der westchinesischen Provinz Qinghai nach Henan transportiert.

Einer der Ingenieure, der in den USA (!) ausgebildete Huang Wanli, der dieses Szenario damals erkannt und angemahnt hatte, wurde daraufhin von Mao Zedong in einem Leitartikel der Parteizeitung der „Parteischädigung, der Förderung einer bourgeoisen Demokratie und Bewunderung fremder Kulturen“ beschuldigt. Die Partei hatte immer recht. Und so könnte Herr Li ebenfalls erzählen, dass der Gelbe Fluss wegen der häufigen und verheerenden Überschwemmungen, die wegen des erhöhten Flussbettes im Unterlauf des Stroms auftreten, auch den traurigen Namen „Chinas Sorge“ trägt.

Aber die Neugier der Reisenden wird nicht befriedigt, statt kritischer Töne lieber hopphopp! wieder hinein in den Bus und weiterfahren, denn außer diesem Industriedenkmal hat Sanmenxia auch ein Museum zu bieten, das über den Gräbern eines Fürstenstaates der Westlichen Zhou-Dynastie errichtet wurde, deren Führer sich hier vor etwa 2800 Jahren mit ihren Pferdewagen, Pferden und Hunden bestatten ließen. Die Grabbeigaben, die Wagenräder und die Skelette noch genau so in ihren Gräbern, wie die Archäologen sie freilegt haben. Und während das chinesische Volk draußen bei gut 32 Grad im benachbarten Vergnügungspark wimmelt, treffen wir im herrlich kühlen Museum lediglich zwei weitere Touristenpärchen aus Baltimore in den USA sowie Gent in Belgien. „Chinesen gehen eben nicht gerne ins Museum“, sagt Herr Li.

Kleinere Gemeinde heißt in China übrigens: Zu der halben Million Einwohner im Stadtgebiet von Sanmenxia kommen noch einmal rund 1,8 Millionen Menschen in den umliegenden Verwaltungsgebieten dazu. Ein paar Zentimeter Entfernung von Peking auf der Landkarte bedeuten einen 90-Minuten-Flug in Richtung Westen und dann noch mal drei Stunden Busfahrt durch eine Landschaft, die flach ist und ziemlich unspektakulär – sieht man von den vielen verlassenen, plattgemachten Dörfern ab, die sich alle paar Kilometer an das vierspurige Band der Autobahn schmiegen. Aus ihren Ruinen ragen bereits die Betonstelzen für eine neue Trasse der Hochgeschwindigkeitszüge empor, denn die Eisenbahn ist mit Abstand das wichtigste chinesische Verkehrsmittel. Hinter den Stelzen erheben sich gewaltige Trabantenstädte – Hochhäuser mit 30 Etagen und mehr, die sich ebenfalls häufig noch im Bau befinden. Das soll also der Fortschritt sein, wir blicken skeptisch drein, aber Herr Li erklärt, dass die Dorfbewohner in diesen Hochhäusern erstmals in ihrem Leben eigene Schlafzimmer, Küchen und Bäder besitzen würden und sich die Toilette nicht mehr mit mehreren Familien teilen müssten.

Spätestens in diesem Moment begreifen wir, dass China anders tickt. Wohl in keinem anderen Land der Erde prallen Geschichte und Moderne so ungeniert aufeinander, werden alte Strukturen gnadenlos niedergewalzt, werden Geschichte und Kultur aber auch so hemmungslos wie stolz inszeniert. Das wirkt häufig monströs, kitschig und banal, manchmal auch unfreiwillig komisch, aber auf jeden Fall immer wieder verstörend.

Würde beispielsweise die berühmte Eisenpagode aus dem elften Jahrhundert nicht in der ehemaligen Kaiserstadt Kaifeng (heute eine bedeutungslose Stadt), sondern, sagen wir mal, in der alten deutschen Kaiserstadt Aachen stehen, dann bildete dieses einmalige historische Großod garantiert nicht den Mittelpunkt eines gigantischen „Scenic Parks“, der irgendwie alles an chinesischer Geschichte beinhaltet – nur keine Museumspädagogik. An künstlichen Bachläufen stehen Dutzende von Reihern aus Plastik (der Reiher ist das chinesische Symbol für den „richtigen Weg“), vereinzelt pinkeln lustig grinsende Kinderstatuetten mit nacktem Popo aus vermeintlichen Bronze-Schniedeln (tatsächlich handelt es sich ebenfalls um Kunststoff) in die Bäche; wobei das Plätschern von atonaler chinesischer Fahrstuhlmusik begleitet wird, denn die künstlichen Bäumchen entlang der blitzsauberen Parkwege beherbergen alle einen Lautsprecher. Fast alle alten Gebäude, die auf dem Parkgelände oder im Stadtzentrum Kaifengs stehen, sehen alt aus, doch sie sind gerade mal 20 Jahre alt – die letzte Flut 1994 hinterließ große Zerstörungen. Aber schon im nächsten Moment stehen wir in einem wunderhübschen Bonsai-Wäldchen, in dem die (natürlichen) Bäume – einige unter bewachsenen Pergolen, die mit farbenfrohen Lampions dekoriert sind – akkurat klein gehalten werden; so klein, dass ihre Äste keinen Lautsprecher tragen können. Zum Glück. Und da sitzt dann auch schon der Bilderbuchchinese auf einer Holzbank: ein alter Mann mit zerfurchtem Gesicht und langem, weißen Spitzbart, der regungslos in die Ferne schaut. Er ist zweifellos echt, aber er trägt merkwürdigerweise einen Schlafanzug aus dünnem Flanell, dabei ist es kurz vor Mittag, doch Herr Li klärt uns auf: „Früher waren Schlafanzüge etwas, was sich nur die Wohlhabenden leisten konnten – und die zeigten das dann auch gerne in der Öffentlichkeit.“

Die jüngeren Generationen ziehen inzwischen jedoch das Auto dem Pyjama als Prestigeobjekt vor. Und als wir am Nachmittag erneut zwei Stunden auf der Autobahn unterwegs nach Dengfeng zu den Shaolin-Mönchen sind, fällt uns auf, dass praktisch nur zwei Sorten Fahrzeuge in China zu existieren scheinen: Luxuslimousinen und rote Lastwagen, die zumeist randvoll beladen sind mit Baumaterialien.

Dengfeng ist das Zentrum für chinesische Kampfkünste, vor allem für Kung Fu, und als unser Bus am Trainingsgelände unterhalb des Shaolin-Klosters vorbeirollt, üben auf diesem riesigen Platz etwa 800 junge Männer (und einige wenige Frauen) mit viel Gebrüll Tritte und Schläge gegen imaginäre Gegner. Etwa 100 jugendliche Kämpfer hängen in einem kegelförmigen Netzgerüst an einem Kran und studieren eine der akrobatischen Schwebe-Choreografien ein, mit denen die „Shaolin-Kämpfer“ bereits im Jahre 2008 bei den Olympischen Sommerspielen in Peking die Welt begeisterten. Als unser Mitreisender Nicolas das Spektakel fotografieren will, kommt jedoch ein Trainer im Laufschritt auf ihn zu, windet ihm, ohne lange zu fragen, die Kamera aus der Hand und löscht diese Bilder. Widerspruch ist zwecklos.

Etwa 15.000 Kung-Fu-Schüler leben und trainieren hier auf der Tagou-Akademie, der einzigen Schule, die der Abt des Shaolin-Klosters an diesem heiligen Ort zugelassen hat. Ungefähr 50 weitere solcher größerer und kleinerer Kampfsportschulen sind daher direkt in Dengfeng angesiedelt. Und alle, die hierher kommen, sind vom Traum beseelt, vielleicht einmal Karriere zu machen beim Film – was nur die allerwenigsten schaffen – oder wenigstens Trainer zu werden. In einem Heftchen stehen die mahnenden Worte des Akademiegründers: „Handle nach hohen Idealen. Strebe nach Weisheit und trainiere den Körper. Fürchte niemals das Böse. Kämpfe stets für Gerechtigkeit.“

Wer sich daran hält, kann zumindest mit einem Job bei der Armee oder einem privaten Sicherheitsdienst rechnen. Ein Schulabschluss ist in der Ausbildung mit drin. Umgerechnet rund 200 Euro kostet ein Kung-Fu-Internat pro Monat, viel Geld für eine chinesische Familie. Europäer und Amerikaner, die diesen Kampfsport erlernen oder vervollkommnen wollen, müssen mit dem Dreifachen rechnen. Dafür sind sie von den chinesischen Mitschülern getrennt, auch beim Essen und Schlafen in den Mehrbettzimmern, doch das Training, sagt der 20-jährige Dong Bao, sei für alle gleich hart. Er will Kung-Fu-Lehrer werden. Dong Bao gilt als einer der besten: Immerhin durfte er schon mal ins Ausland, um bei „Wetten, dass..?“ aufzutreten. Und auch in Dengfeng steht er abends auf der Bühne einer Freiluftarena und ist Teil eines Sing- und Tanzspiels mit gut 250 Mitwirkenden. Zwei Stunden später sagt Herr Li in der Halle des Hotels: „Ich bitte Sie jetzt alle, sich rasch schlafen zu legen. Morgen ist wieder ein langer Tag!“ Jü Hui kennt eben keine Pausen.