Vor 3000 Jahren entstand in Mittelamerika eine der ältesten Kulturen der Welt. Auf Mexikos Halbinsel Yucatán sind heute noch imposante Bauten zu bestaunen

Ein Mann mit schulterlangen, grau gelockten Haaren, kurzer Khakihose und schweren Wanderstiefeln steht an diesem Morgen vorm Eingang des Hotels in Puerto Morelos nahe Cancún. „Pluma Blanca, weiße Feder“, stellt er sich vor. „Geboren 1936 als Daniel Arteaga vom Stamm der Jaqui.“ An seinem langen Schamanenstab baumelt ein buntes Bündel Federn vom Adler, Aasgeier, Ara und von einer Eule. „Ich werde Sie zu den Maya-Stätten auf der Halbinsel Yucatán begleiten“, sagt er.

Es ist eine der ältesten Kulturen der Welt, errichtet von den Gottkönigen des Regenwaldes, auf deren geheimnisvolle Spuren wir uns begeben wollen. Vor 3000 Jahren entstanden überall in Mittelamerika die ersten Siedlungen der Maya. Archäologen ist es gelungen, versunkene Städte aus der Blütezeit der Reiche auszugraben, die Hieroglyphenschrift der Maya zu entziffern und ihre erstaunlichen Kenntnisse der Mathematik, Astronomie und Architektur zu entschlüsseln.

Auf der langen Fahrt zur Ruinenstadt Uxmal versorgt uns Pluma Blanca mit Basisinformationen über den Vielvölkerstaat Mexiko: fünfeinhalbmal so groß wie Deutschland, 63 indigene Ethnien, darunter die Nachkommen des Urvolkes der Maya. Heute leben noch vier Millionen Maya in Mexiko, eine winzige Minderheit bei insgesamt 120 Millionen Gesamtbevölkerung, von denen mehr als 60 Prozent Mestizen, Mischlinge, sind. Später sehen wir im Bus den Hollywoodfilm „Apocalypto“ von Mel Gibson, ein grausames Spektakel, in dem zu sehen ist, wie die Krieger von Maya-Stämmen sich gegenseitig massakrieren und ihre Gefangenen den Göttern opfern. Viel Stoff zum Diskutieren. Der Film sei realistisch, sagt unser Guide, bis auf die falsche zeitliche Einordnung der Ankunft der Spanier. Doch der weltbekannte Maya-Forscher Nikolai Grube hat die Darstellung der Ureinwohner als primitives, im Wald lebendes Volk, das im Blutrausch Menschen massakrierte, als historisch unhaltbar zurückgewiesen.

Gegen Abend erreichen wir Uxmal, gerade rechtzeitig, um auf einem Platz in der Ruinenstadt an einer geheimnisvollen Light & Sound Show teilzunehmen. Von einer Holztribüne blicken wir auf den lang gestreckten Gouverneurspalast, der in der Dunkelheit wie die uralten Gebäude ringsum in einem bläulich-violetten Licht erstrahlt. Mit Pathos erzählt eine Stimme währenddessen von einer tragischen Liebesgeschichte der Prinzessin von Mayapán, die den Prinzen von Uxmal heiraten sollte. Sie war aber in einen anderen Herrscher verliebt, der sie entführte, was zu großen Kriegen zwischen den Maya-Städten führte und sie schließlich untergehen ließ. So weit die Legende. „Als die Spanier im 16. und 17. Jahrhundert kamen“, sagt Pluma Blanca, „lebten die Maya nur noch in Hütten. Die Kolonialisten glaubten, dass die verlassenen Bauten von Römern oder Griechen stammten.“

An einem sonnigen Morgen vor der großen Stufenpyramide von Uxmal zu stehen, das ist ein feierlicher Moment. Die „Pyramide des Zauberers“, wie sie auch genannt wird, ist 35 Meter hoch und im sechsten bis zehnten Jahrhundert nach Christus mehrfach umgebaut worden. Unglaublich, wie die schrägen Wände, Stein an Stein gebaut, mehr als 1000 Jahre halten konnten. Wir spazieren zu den erhöht stehenden Palastbauten, zum Ballspielplatz und zum Schildkrötenhaus. „Es verdankt seinen Namen den steinernen Schildkröten am oberen Gesims, welche die 13 Himmel der Maya repräsentieren“, sagt Pluma Blanca.

Es gab kein Wasser in Uxmal. In 100.000 Liter fassenden Zisternen wurde Regenwasser aufgefangen, das für ein halbes Jahr Trockenzeit reichen musste. Was hat die Maya dazu gebracht, an einem solchen Ort so große Bauwerke zu schaffen? Zehn Quadratkilometer dehnte sich die Stadt aus, in der etwa 25.000 Menschen lebten. Der größte Teil von Uxmal ist heute von Wald bedeckt und nicht zugänglich.

Auf der Halbinsel Yucatán sind mehrere Maya-Metropolen ausgegraben worden, die wir in den nächsten Tagen aufsuchen werden. Eine der bedeutendsten und am besten erhaltenen ist Chichén Itzá, seit 1988 Unesco-Weltkulturerbe. Vier Treppen mit je 91 Stufen führen zur Tempelpyramide des Kukulkan hinauf, Gott der vier Elemente Wasser, Erde, Feuer, Luft in Gestalt einer gefiederten Schlange. „Der Tempel war ein gigantischer Jahreskalender mit seinen 364 Stufen plus der finalen Plattform. Er kombinierte Himmel und Erde“, sagt Pluma Blanca. Zweimal im Jahr zur Sonnenwende, am 21. März und am 21. September, erscheint am späten Nachmittag der Schatten einer Schlange, als krieche sie die Treppe hinunter und lege ihren Kopf auf die unterste Stufe der Pyramide. Viele Tausend Menschen versammeln sich zu diesem Spektakel. Auch sonst zieht Chichén Itzá eine Vielzahl Touristen an. Tagesausflügler von den Karibikstränden in Cancún und Playa Del Carmen brauchen mit Bussen gerade mal zwei Stunden hierher.

Zu Yucatán gehört auch die spanische Kolonialgeschichte der Großgrundbesitzer mit ihren riesigen Haziendas, ein Feudalsystem, das sich über die mexikanische Unabhängigkeit hinaus bis ins 20. Jahrhundert gehalten hat. Nahe der Hauptstadt Mérida besuchen wir die Hazienda Sotuta de Peon, in der ab 1860 Sisal angepflanzt und verarbeitet wurde. „Damals gab es hier schon 73 Haziendas, auf denen Tausende billiger Arbeitskräfte schufteten“, sagt Luis Felipe, der eine Gruppe Touristen durch das prächtige Herrenhaus mit gekachelten Fußböden führt. Dann geht es mit einem altertümlichen Zug auf Schienen durch das Gelände zu den ehemaligen Produktionsstätten, die erst 1985 stillgelegt wurden. Später hat eine Bank die Hazienda gekauft und in eine Art Museum verwandelt. An den alten Maschinen wird den Besuchern Schritt für Schritt gezeigt, wie aus 7000 Agavenblättern 200 Kilogramm Sisal gefertigt werden. Mit der Produktion wird nichts mehr verdient, die Sisal-Ballen werden an arme Familien verteilt. Gutes Geld kommt nun von den Gästen für Besichtigung und Mittagessen im hauseigenen Restaurant.

Die größte Pyramide Mexikos, 42 Meter hoch, ist in der Maya-Ruinenstätte Cobá im Osten von Yucatan zu bewundern. Es ist nicht ungefährlich, in der mexikanischen Hitze die 120 steilen Treppenstufen hinaufzusteigen, regelmäßig soll es tödliche Abstürze geben. Unser Guide Pluma Blanca aber, 77 Jahre alt, ist als Erster von uns oben. Der steinerne Altar auf der Spitze diente den Mayapriestern vermutlich für rituelle Blutopfer an die Götter. In Cobá, mit 70 Quadratkilometern eine der ausgedehntesten Mayastädte Yucatáns, brauchen wir Fahrräder, um die wichtigsten Bauwerke anzusehen. Faszinierend ist der große Ballspielplatz. Es war außerordentlich schwierig, mit einem Latexball das einzige, hoch gelegene Ringtor zu treffen. „Der Gewinner wurde geopfert und hat den Kopf verloren, um ein Stern zu werden“, erzählt Pluma Blanca den staunenden Zuhörern.

In der Nähe von Cobá steigen wir in die Unterwelt der Maya hinab. Auf rohen Stufen geht es immer tiefer hinunter, bis wir ein blaugrün schimmerndes Gewässer erblicken, über dem sich eine Kuppel mit herabhängenden Stalaktiten wölbt. Cenotes nannten die Maya solche Unterwasserhöhlen, die sich unter dem brüchigen Kalksteinboden gebildet haben. Hier brachten sie den Göttern der Unterwelt Opfer dar, damit sie ihre einzigen Frischwasserquellen im Dschungel bewachten. Oberirdische Flüsse gibt es in Yucatán nicht. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, in einem unterirdischen Gewässer, im Cenote Tankach Ha, zu schwimmen. Das kühle, stille Wasser unter der hohen Kuppel, die ein wenig Licht durchlässt, fühlt sich weich an, und unsere Stimmen hallen wider wie in einer großen Kathedrale. Viele Cenotes stehen miteinander in Verbindung. Sie können zwischen 15 und 100 Meter tief sein. Auf einigen längeren Strecken kann man auch nach Fossilien tauchen. Die Gesamtlänge der bisher bekannten Unterwasserhöhlen wird auf mehr als 1000 Kilometer geschätzt – ein in der Welt einzigartiges unterirdisches Wassersystem.

Zum Abschied hat Pluma Blanca, der immer ein anregender Begleiter war, ein ganz besonderes Geschenk für uns – einen Maya-Kalender. Dazu eine persönliche Berechnung der Tage, die seit dem Beginn dieses Kalenders im Jahr 3113 vor Christus bis zu unserer Geburt vergangen sind. Bei mir sind es 1.846.460 Tage, geboren am Tag 09 Ahau im Monat 13 Kankin, bei abnehmendem Halbmond.