… stand für viele Betriebe im Osten die Frage nach der Zukunft des Gebäudes. Manche rettete ihre Herkunft. Die „Route der Industriekultur“ in Sachsen erzählt Geschichte

Zweimal ertönt die Sirene. Die Menschen, die sich jetzt beeilen, sind längst keine Kohlekumpel mehr, sondern Museumsbesucher. Und der Sirenenton ist Ausstellungsstück wie alles in der ehemaligen Brikettfabrik Knappenrode bei Hoyerswerda. Die nennt sich heute „Energiefabrik“ und ist als Lausitzer Bergbaumuseum Teil des Sächsischen Industriemuseums.

Besucher ersteigen den Turm vor der Backsteinfassade, gehen über eine Brücke in die oberste Etage und folgen dann immer treppab dem Weg der Rohbraunkohle zum Brikett. Über einen bequemen Steg. Ohne den Kohlestaub im Mund. Ohne die Hitze der Trockner auf der Haut. Nur ein geringer Teil der Maschinerie setzt sich während solch einer dreimal täglich losbrechenden Museumsschicht in Bewegung. Aber selbst der verursacht einen Höllenlärm. Ein dröhnendes Rüttelsieb lässt alles vibrieren. Ein kreischender Tellertrockner macht jedes Wort unhörbar.

Mancher Mitarbeiter der ehemaligen Brikettfabrik fand einen Job im Museum

Hier ist zu erfahren, warum die Gegend so ist, wie sie ist. Etwas vom Beginn der Förderung in Schächten vor 150 Jahren. Wer in diesem Stück der Lausitz wildromantische Natur sucht, kommt ein Jahrhundert zu spät – oder ein Jahrzehnt zu früh. Vor über einem Jahrhundert begann der Mensch hier die Erde zu schinden. Weil er die Kohle wollte, holzte er Wälder ab, verjagte Tiere und manchmal, wenn Dörfer den Baggern im Wege hockten, auch seinesgleichen. Nun hat er alles in eine riesige Landschaftsbaustelle verwandelt und schafft neue Natur – aus Tagebaurestlöchern die größte künstliche Seenlandschaft Europas: das Lausitzer Seenland.

Und auch von Menschen erfährt man in der Energiefabrik. In stillen Augenblicken hört man aus Lautsprechern Arbeiter, wie sie ihre „Schwarzen GeSCHICHTen“ erzählen. Einige von denen haben in der Energiefabrik einen neuen Job gefunden. Zum Beispiel Marianne Mark, früher Stellwerkerin im Tagebau, heute Konservatorin in der Ofen-Ausstellung und Gästebetreuerin. Zuerst spricht sie über die Maschinerie, dann auch über die ewig schwarzen Hände, die sie als junge Frau hatte. Sie sagt immer noch „wir“, wenn sie von damals erzählt. Und die früheren Kollegen? Anfangs haben sie das Museum gemieden. Aber so langsam kommen jetzt manche, um den Enkeln zu zeigen, wo und wie sie damals gearbeitet haben. Alle. Wie die meisten Industriebetriebe der DDR fuhr auch die Brikettfabrik Knappenrode Anfang der 90er die letzte Schicht. Dann ging es um Fortbestand, Abriss oder Alternativen.

25 Jahre nach dem Ende der konservierenden Isolation und reichlich 20 Jahre, nachdem die Maschinen stehen blieben, werden in Sachsen an 51 der alten Gemäuer Schilder mit der Aufschrift „Route der Sächsischen Industriekultur“ geschraubt. Viele Anlagen sind – so wie die Brikettfabrik Knappenrode – noch bis Anfang der 90er auf Hochtouren gelaufen, zum Teil seit 100 und mehr Jahren. Sie alle erzählten Geschichten, manche von Sachsens ganz eigenem Wirtschaftswunder, dem Retablissement zwischen dem Siebenjährigen Krieg und dem Zweiten Weltkrieg.

„Armut ist der beste Konservator“, zitiert Dr. Andreas Bednarek, Kunstwissenschaftler und Experte für Sachsens Industriedenkmale, einen gern genutzten Spruch. „Wie auch in den Städten fehlte es in der DDR-Industrie an Kapazitäten für Abriss und Neubau. Also wurde geflickt, wo immer es ging. Wo nicht einmal mehr das Flicken ging, blieben Ruinen.“ Was überlebte, ließ Denkmalpfleger frohlocken: Manufakturen der vorindustriellen Zeit, Fabrikpaläste der Gründerjahre, Produktionsanlagen der Moderne. „Räumlich so dicht beieinander und – vom Bergwerk bis zur Spitzenstickerei – quer durch alle Branchen findet man das in keinem anderen Bundesland“, sagt Bednarek.

Die alte Leipziger Baumwollspinnerei ist heute Hotspot der Kunstszene

Knappenrode hatte Glück und wurde Museum. Nun steht es in einer Reihe mit anderen ehemaligen Produktionsanlagen, Bergwerken und Tagebauen, Bahnen, Siedlungen, Brücken und Fabrikantenvillen. In einigen wird noch immer gearbeitet, sodass Besucher die laufende Produktion beobachten können, in der Teigwarenfabrik Riesa zum Beispiel, in der Landskron Brau-Manufaktur Görlitz oder in der Staatlichen Porzellan-Manufaktur Meissen.

Andere mutierten nach der letzten Schicht ohne Umwege zum Museum. Als zum Beispiel der VEB Volltuchwerke Crimmitschau 1990 die Produktion einstellen musste, wurde der gesamte Gebäude- und Maschinenbestand umgehend unter Denkmalschutz gestellt. Zum Großteil fast 70 Jahre alt, erzählt die Maschinerie heute die Geschichte der Herstellung von Wollstoffen. Das Leipziger Druckkunstmuseum war bis 1994 funktionierende Druckerei, eine der letzten der Stadt. Im jetzigen Museum, das noch eine wertvolle Sammlung aufnahm, gibt es keine Maschine, die nicht mehr funktioniert. Erfahrene Setzer und Drucker bringen sie vor den Augen des Publikums in Bewegung: die Handgießmaschine von 1850, die Kniehebelpresse von 1832, die Zeilen-Setzmaschine von 1899 …

Es gibt auch Gebäude, die zwar öffentlich, aber nicht museal genutzt werden. Die einstige Leipziger Baumwollspinnerei zum Beispiel. Im März 1885 liefen die Maschinen an, bis Anfang des 20. Jahrhunderts avancierte das Werk zur größten Spinnerei des europäischen Festlandes, bis zu 4000 Menschen arbeiteten hier. 1993 hörten die Spindeln auf, sich zu drehen. Die neuen Besitzer mit dem sperrigen Namen Leipziger Baumwollspinnerei Verwaltungsgesellschaft mbH trugen ein kleines Firmenmuseum zusammen, Zeugen des Aufschwungs der sächsischen Textilbranche. Der am letzten Arbeitstag unausgeräumt zurückgebliebene Schrank des Elektrikers Horst erzählt von seinem Nutzer. Von Fotos blicken Arbeiterinnen.

Inzwischen wächst die Leipziger Bevölkerung wieder so rasant wie in einstigen Gründerjahren. Und die alte Spinnerei macht als Hotspot der internationalen Kunstszene von sich reden.

Über 100 Ateliers haben hier Platz gefunden, zwölf Galerien, neben Büros, Kanzleien, Läden, Handwerkern und einer Aktionskunst-Location. Ganz Große wie Neo Rauch sind Mieter der Spinnerei, auch Unbekannte, Studenten, Kosmopoliten auf kurzem Leipzig-Halt. Hier finden sie, was sie brauchen. Räumlichkeiten, die je nach Sanierungszustand einen bis maximal fünf Euro pro Quadratmeter kosten. Und sie finden „eine ganz besondere Aura“, wie es Rainer Justen nennt, der sich hier mit zwei Fotografenkollegen ein Studio teilt. „Man kennt sich. Man begegnet sich. Es ist die ganz besondere Adresse, die Räume lässt, denen man selber Leben einhauchen kann.“