In der endlosen Weite der Mongolei errichten überaus gastfreundliche Nomaden wieder und wieder ein Zuhause auf Zeit – für sich und ihre Tierherden

Eine gewaltige Staubwolke verfolgt uns im Rückspiegel, der Motor des russischen Vans zieht heiße Luft an, und vor der Windschutzscheibe wartet die Wüste. Seit Stunden sehen wir kein Auto mehr, kein Schild, keinen Strommast. Die Straße ist nicht mehr als zwei Reifenspuren in der Steppe, als einziger Orientierungspunkt dient die Sonne, die in der Mittagszeit gleißend über der Wüste Gobi steht.

Der Entdecker Marco Polo (1254– 1324) beschrieb die nördlichste Wüste der Welt, an deren Grenze die Seidenstraße verlief, als tödliches Hindernis, so lang, dass man ein Jahr bräuchte, um sie zu durchqueren. Essen fände man nicht. Wenn er wüsste, dass es heute viele Abenteurer-Touristen in die 2000 Kilometer breite Steppenwüste zieht.

Aus Ulaanbaatar, der Hauptstadt der Mongolei, braucht man mindestens eine Woche für eine Rundreise. Ein guter Fahrer, ein Van mit Vierradantrieb und Sprit für die über 1000 Kilometer Holper-Piste kosten rund 70 Euro am Tag. Wir entscheiden uns für das mongolische Übernachten, im Zelt. Für das Zuhause auf Zeit. Das Nomadenvolk in dem am dünnsten besiedelten Land der Welt ist es seit jeher gewohnt, seine Jurten irgendwo aufzustellen und abzubauen und weiterzuziehen, wenn die Tiere das wenige Grün der Steppe verzehrt haben. Landbesitz gibt es außerhalb der Städte nicht. Die Mongolei ist rund fünfmal so groß wie Deutschland, hat aber weniger Einwohner als Berlin.

Unser Fahrer Baagie spricht kein Englisch, wir kein Mongolisch. Alles, was wir voneinander wissen, lässt sich in Zahlen ausdrücken. Er ist 50 Jahre alt, Vater von einer 20- und einer 24-jährigen Tochter und fährt seit zwei Jahren Touristen durch die Wüste. Wie lange wir am ersten Tag noch unterwegs sind? Mit dem Zeigefinger malt Baagie eine 45 in den Sand. 45 Kilometer, dafür brauchen wir über eine Stunde. Mit dem Zwischenstopp, vom dem wir noch nichts ahnen, werden es vier sein.

Sprachlos macht die Landschaft von Bagaa Gazriin Chuluu. Aus der perfekt geraden Steppenlandschaft wachsen am Horizont Berge aus Granit, durch den harten Wind und das bisschen Regen über Jahrtausende abgeschliffen. Eine Mondlandschaft, 20 Kilometer breit mit dem höchsten Punkt auf 1706 Metern inmitten der flachen Gobi-Wüste. Nur 30 Meter hoch und 100 Meter breit ist der Tsagaan Suvarga („die weiße Stupa“), hier richtet sich der Blick nach unten und in die Vergangenheit. Der Boden lag einst unter dem Meeresspiegel, es liegen Fossilien und Meeresschalen im Sand und verwandeln die Farben von Tausenden kleinen Hügeln zu einem Sand-Regenbogen.

Mindestens genauso beeindruckend wie die Landschaft sind die Leute. Ob wir auf ein Fest wollen, fragt uns ein Junge vor einem Mini-Markt in einem Wüstenort. Neben ihm steht unser Fahrer Baagie. „Yes“, sagen wir spontan und halten eine halbe Stunde später vor einer Wellblechhütte, umringt von drei Jurten mitten im Nichts. Jemand schiebt uns in einen Raum voller Menschen. Wir sind auf einer Hochzeitsfeier gelandet. Genauer: Wir sind die Ehrengäste ohne Geschenke.

Das Brautpaar sitzt in eierschalenfarbener Hochzeitskluft auf zwei Stühlen im kleinen Wohnzimmer, die Gäste drängen sich kniend auf dem Boden, die 20 Quadratmeter sind voll mit Menschen in farbenfrohen, traditionellen Festkleidern. Ihre Blicke kleben an uns wie unsere T-Shirts. Vor dem Brautpaar thront ein gevierteltes, gekochtes Schaf, darauf liegt der Kopf. Daneben eine Torte aus getrocknetem Schafskäse. Wir bekommen große Schüsseln voll Airag – vergorener Stutenmilch. Von diesem alkoholischen Getränk, das die Menschen heute mongolisches Bier nennen, hatten wir schon gelesen – bei Marco Polo. Dem venezianischen Reisenden hat es vor 750 Jahren gemundet. Uns nicht. Es schmeckt, wie Stall riecht, dabei säuerlich prickelnd. Das Getränk wird in den Jurten zum Gären angesetzt – jede Nomadenfamilie betreibt ihre eigene kleine Destillerie. Drei Prozent Alkohol hat die Prickelmilch.

Danach bekommen wir warmen Wodka aus randvollen Keramikschüsseln gereicht, sehen die Augen der Gäste in Festtagsgewändern gespannt zu uns rübergucken. Zuerst werden die Männer bedient, das ist in der Mongolei die gängige Höflichkeitsform.

Wir trinken einen ordentlichen Schluck und wollen beide höflich mit der rechten Hand unsere Schüsseln zurückgeben, da winkt der Junge mit der Flasche ab. Ein Raunen, die Gäste machen uns Handzeichen. „Drink, drink, drink.“ Wir sollen trinken. Alles. Kein Lächeln, keine Regung. 50 ernste Augenpaare ruhen auf uns. Als wir die Schüsseln endlich leer zurückgeben, grummeln unsere Mägen. Was wir wohl denken würden, wenn ein Fremder, den wir spontan auf unsere Hochzeit eingeladen hätten, ein Glas Champagner nur mühevoll hinunterwürgen könnte.

Die Gesellschaft feiert schon seit 48 Stunden, an Tag drei sind Geschenke angesagt. Wir stehen daneben, als die Gäste lebendige Schafe am Brautpaar vorbeitragen, danach gekochte, eine Waschmaschine, einen Kühlschrank und Geldgeschenke. Draußen parkt ein Transporter mit einem Pferd auf der Ladefläche, auch ein Geschenk.

Einer der Gäste spricht etwas Englisch, bittet uns in eine der Jurten der Familie neben dem neuen Haus. Er erzählt, dass die Gastfreundschaft der Mongolen so weit reiche, dass sie sogar Obdachlosen Essen geben, und zeigt auf eine Frau mit wirrem Blick, die gerade gierig Schafssuppe löffelt. Hinter jeder Jurtentür wartet neben großen Portionen vergorener Stutenmilch auch große Gastfreundschaft – das werden wir auf unserer Tour immer wieder erleben. Zum Abschied schenkt uns das Brautpaar noch ein Rückenstück gekochtes Schaf, Käse und hart gebackene Fladen.

Ein Festessen für unseren Fahrer am Abend unter freiem Himmel. Wir machen uns dazu Pasta auf einem Camping-Kocher. In der ersten Nacht zelten wir mitten zwischen großen Steinformationen, die an die Landschaft der Tempelstadt Hampi in Indien erinnern.

Schon mittags erreichen wir wieder eine Jurte – zu unserer Erleichterung gibt es salzigen Tee statt Stutenmilch. Baagie drückt die Fingerkuppen beider Hände zu einem Dach zusammen, hier können wir zelten. Wir suchen nach einer Stelle, an der es nur Kiesel, keine Steine am Boden gibt, und bauen auf.

Der Boden ist hart, wir hämmern auf die Heringe ein. Schließlich ist der Kampf gewonnen. Mitten im Nichts, umgeben von dieser rauen Natur, ist das Gefühl von Weite überwältigend. Andere Jurten sind nur weiße Punkte irgendwo in der Ferne, wir sind alleine an diesem elementaren Ort. Pfadfinder-Charme pur. Zugegeben, für das Lagerfeuer fehlt das Holz, und wir kochen mit Gas, aber das Leben draußen reduziert die Gedanken auf das Wesentliche. So ein Mangel an Zivilisation, ein Mangel an all dem, was uns sonst selbstverständlich scheint, ist befreiend.

Nach drei Tagen in der Hitze, in der das mitgebrachte Wasser nur zum Trinken und Kochen reicht, ist eine öffentliche Dusche in Dalandsagad reinster Luxus. Frisch geduscht geht es in den Gobi Gurvan Saikha, einen beliebten Nationalpark der Mongolei. Besuchermagnet ist die Yolyn-Am-Schlucht, die fast das ganze Jahr über mit Eis gefüllt ist, im harten Winter bis zu zehn Meter hoch. Ab Juli ist alles geschmolzen; was bleibt, ist ein wunderschöner Spaziergang entlang des Yol-Baches – viele Touristen erkunden die Oase zu Pferd. Viel schöner ist es aber, zu Fuß zu gehen und quiekend schimpfende Murmeltiere über die Wiese rennen zu sehen.

Den Weg zum Übernachtungsort hat ein Bach von Quellwasser aufgefressen. Kurz vor Sonnenuntergang erreichen wir ein Plateau über der Schlucht. Der Horizont sieht aus wie mit dem Lineal gezogen. Mit dem 1,40 Meter hohen Zweimannzelt sind wir der höchste Punkt am Horizont. Durch das Zelt-Fenster scheinen die Sterne, die greifbar nah über der Schlucht zu hängen scheinen. Die Milchstraße sehen zu können ist hier so normal wie Containerriesen im Hamburger Hafen.

Nur drei Prozent der Gobi-Wüste bestehen aus Sand. Die größte Sanddüne der Mongolei, Khongoryn Els, ist bis zu 300 Meter hoch, zwölf Kilometer breit und 100 Kilometer lang. Das Besteigen ist kräftezehrend, bei jedem Schritt gibt der Sand einen halben Meter nach. Jeder Tritt eine kleine Sandlawine, bei der die Reibung der Sandkörner ein lautes Knirschen erzeugt, fast wie ein dumpfes Vibrato eines Cellos. Die Einheimischen nennen die Khongoryn Els deshalb „singende Düne“. Auch für uns gibt es ein beängstigendes Konzert. Als hätte die Sonne auf uns gewartet, färbt sie den Grat auf der Spitze goldgelb, als wir ihn erreichen. Der Ausblick raubt uns den Rest-Atem, wir sitzen keuchend da und können uns nicht sattsehen. Rechts die Landschaft mit Jurten, Seen, Wiesen, links eine Hügellandschaft aus kleinen Sanddünen. Hier wird die Wüste zur „goldenen Gobi“.

In Bajandsag wird aus Gold Rot. Neben den wegen der Farben „Flamming Cliffs“ genannten Klippen entdeckte der US-Abenteurer Roy Chapman Andrews in den 1920er-Jahren innerhalb von zwei Jahren mehr als 100 Dinosaurierskelette und -eier. Die versteinerten Urtiere sind heute in Museen in Ulaanbaatar und auf der ganzen Welt verteilt. Immer noch verbirgt sich ein gewaltiger prähistorischer Schatz unter dem Wüstensand: 2006 grub ein US-mongolisches Team in der Nähe 67 Skelette aus – in nur einer Woche.

Die Mongolei und die Pferde – eine jahrtausendealte Tradition

Auf dem Rückweg nach Ulaanbaatar machen wir einen Abstecher nach Charchorin, in die Stadt neben den Ruinen von Karakorum. Die ehemalige Hauptstadt des mongolischen Reiches von Dschingis Khan beheimatet das erste buddhistische Kloster von 1586. Erdene Dsuu sieht mit seiner meterhohen Mauer wie eine Festung aus. Von den 62 Tempeln der Anlage sind nach den kommunistischen „Säuberungen“ von 1937 nur vier übrig. Die Fundamente liegen anklagend wie steinige Zeitzeugen unterm Himmelblau.

Abends macht Baagie wieder das Zelt-Zeichen, wir sind auf einer Pferdefarm gelandet. Mehr als 100 Tiere in allen Brauntönen stehen in der hügeligen Landschaft, darunter viele Fohlen. Männer in traditionellen Mänteln kommen aus einer Jurte und steigen auf ihre Motorräder. Bewaffnet mit Lasso und Hupe treiben sie die Herde zusammen. Die Mongolei und die Pferde, eine jahrtausendealte Tradition.

Am Morgen packen wir unser Zelt zusammen. Auch die Nomaden ziehen weiter. Die Einzelteile der Jurte sind innerhalb von 20 Minuten auf einem Transporter verladen. Die Männer zeigen hinter einen Hügel, dort wollen sie wieder aufbauen. Mitten in der Weite der Steppe. Im wunderschönen Nichts. Ihr Zuhause auf Zeit. Für immer.