Ganz Mailand hat sich ins Navigli-Viertel verliebt – in Kanäle aus dem Mittelalter, Restaurants am Wasser und Ateliers in versteckten Höfen. Hier drehen sich die Zeiger der Uhren etwas langsamer.

Mailänder schlendern, bummeln, spazieren nicht. Mailänder rennen – eigentlich immer. Auf den U-Bahn-Rolltreppen hetzen sie an Zugezogenen vorbei, auf den Straßen klackern ihre Absätze in hektischem Stakkato. Doch es gibt ein Stadtviertel, in dem das plötzlich anders wird, in dem die Rastlosen endlich abbremsen. Erst verfallen sie in einen zögerlichen Schlenderschritt, dann blei-ben sie stehen, blinzeln in die Sonne. Sie sind im Navigli-Viertel angelangt – in Mailands Dorf von Welt.

Die Verwandlung muss am Wasser liegen: Tiefgrün und unergründlich fließt es in zwei breiten Kanälen durchs Viertel. Naviglio Grande und Naviglio Pavese heißen sie, und verbunden sind sie durch ein Hafenbecken namens Darsena. Verschnörkelte Eisenbrücken wölben sich über der Strömung. Am Ufer hupen keine Autos, die Motorini drängeln nicht. Stattdessen stolpert ein kleiner Rollschuhfahrer übers Pflaster, Damen trippeln zur Messe. Jungdesigner nähen an Kleidern, aus einem Trödelladen dudelt Jazz. Und überall sitzen entspannte Menschen, trinken Orangensaft oder Espresso und lassen den Blick über die Fluten gleiten.

Wasser beruhigt. Wasser lässt durchatmen. Doch es gibt wohl noch einen Grund, weshalb die Mailänder sich von den Navigli angezogen fühlen: Nur hier zeigt ihre Stadt noch ihr ursprüngliches Gesicht. 800 Jahre lang war Mailand von Kanälen durchzogen, ähnlich wie Amsterdam oder Venedig. Ab dem zwölften Jahrhundert bauten die Mailänder die Navigli systematisch aus, bis die Wasserstraßen ihre Stadt mit dem Lago Maggiore und dem Comer See im Norden verbanden – und mit der Adria.

Was wäre aus dieser Metropole nur ohne ihr Wasser geworden? Selbst der weiße Marmor für den Mailänder Dom wurde vom Lago Maggiore bis in die Innenstadt geschippert. Tag und Nacht ließen die Fluten Wasserräder ächzen, die mitten in der Stadt Getreide mahlten, Schmiedepressen antrieben und früh den industriellen Aufstieg ermöglichten. Die Mailänder fingen direkt vor ihrer Haustür Fische. Und vor den Toren pumpten die Bauern großzügig Wasser ab, um ihre Reisfelder zu fluten.

Auch heute noch ist die ländliche Lombardei von einem dichten Bewässerungsnetz durchzogen – doch in Mailands Innenstadt sucht man Kanäle vergeblich: Ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert galten sie als stinkend, dreckig und unerhört altmodisch. Während des Faschismus brauchte man dann Platz für große, protzige Boulevards, und so wurden die Innenstadtkanäle ab den 1920er-Jahren zugeschüttet. Nur der Naviglio Martesana im Nordosten entkam dem Erneuerungswahn – und eben das charakteristische Navigli-Viertel südwestlich vom Zentrum, mit seinen zwei Kanälen und dem Hafenbecken.

„Mailand muss wundervoll gewesen sein mit all dem Wasser; ein Jammer, dass kaum etwas davon geblieben ist“, sagt Michela Solari, und ihr Mann Anders Lunderskov streicht durch seinen zauseligen Bart. Sie ist Modedesignerin, er entwirft und schreinert wundervoll schlichte Möbel. Ihr gemeinsames Atelier versteckt sich in einem der verwunschenen Innenhöfe des Viertels. In manchen Höfen duften Jasminblüten, in anderen ranken sattgrüne Weinpflanzen an den Wänden.

Es war diese Atmosphäre, die Lunderskov aus Dänemark hierherlockte. Michela Solari hingegen ist mit den Navigli-Kanälen aufgewachsen. „Wir wussten die gar nicht zu schätzen. Als Kind hatte ich immer Angst, bei Nebel ins Wasser zu fallen“, erzählt sie. „Bis Ende der 70er-Jahre trieben auf dem Naviglio Grande Lastkähne voller Kies zum Darsena-Hafen, nur mithilfe der Strömung. Abends wurden sie aneinandergebunden – und dann schleppten tuckernde Traktoren sie wieder zurück.“

Die Lastkähne sind längst verschwunden, aber seit wenigen Jahren schippern dort zumindest wieder Touristen entlang. Ein schmucker Kapitän mit gold-blauen Schulterklappen steht am Steuer, während die Passagiere mit vielen Che-bello!-Rufen unter Brücken hindurchfahren. Am Vicolo dei Lavandai, dem Wäscher-Gässchen, klackern ihre Kameras besonders oft.

Ein verwittertes Waschhaus erinnert dort an die alten Zeiten des Navigli-Viertels: Holzbalken halten ein krummes Ziegeldach, sonnenhungrige Eidechsen hocken auf den Steinen. Es ist gar nicht so lange her, da knieten hier noch Hausfrauen, schrubbten Schlafanzüge und Blaumänner und spülten sie mit Wasser, das sie aus dem Naviglio Grande abzweigten. Eine dieser Frauen wohnt bis heute in der Gasse: Maria Salti, 91, eine rüstige Dame im Arbeitskittel. „Neben dem Waschhaus stand eine Drogerie, da haben wir für fünf Lire heißes Wasser gekauft“, erzählt sie. „Und in unserem Innenhof stand eine schwere Handschleuder. Wenn alle Wäsche zum Trocknen auf den Leinen hing, haben wir bei einer der Nachbarinnen Kaffee getrunken. Schön war das damals. Schön.“ Als die Gemeinde das öffentliche Wäschewaschen verbot, kaufte Maria Salti Ende der 70er-Jahre eine Waschmaschine. „Aber die sieht die Flecken nicht“, grummelt sie. „Von Hand wurde das damals sauberer.“

Selbst im Navigli-Viertel steht die Zeit eben nicht vollständig still: Wo zunächst arme Arbeiterfamilien wohnten, siedelten sich ab den 80er-Jahren immer mehr Kreative an und begannen, das Gesicht des Viertels zu verändern. Heute sind die Wohnungen mit Etagenplumpsklo saniert und gewinnbringend vermietet. Die Drogerie der Wäscherinnen ist ein Feinschmecker-Restaurant, alte Handwerksbetriebe verschwinden. Doch die erstaunlichste Verwandlung vollzieht sich nach Sonnenuntergang, wenn sich das Licht der Straßenlaternen sanft im Wasser spiegelt.

Maria Salti zieht sich dann vor den Fernseher zurück und verrammelt ihre hellblauen Fensterläden. Denn ihr Dorf feiert an beinahe jedem Sommerabend eine Art Volksfest – eins mit vielen jungen, gut aussehenden Gästen. Es ist, als zöge es halb Mailand an die Kanalufer: Bücher- und Schallplattenläden sind trotz später Stunde geöffnet, Liebespärchen knutschen auf den Brücken, sämtliche Stühle und Gehsteigkanten sind besetzt, und in den Gläsern schwappen bunte Cocktails bis tief in die Nacht.

„Wasser zieht uns Mailänder an, es ist das Lebenselixier der Stadt“, sagt Guido Rosti schulterzuckend, als morgens die Ufer wieder beschaulich in der Sonne liegen. Am Nachtleben findet der pensionierte Geologe zwar keinen Gefallen – aber am Wasser umso mehr. Er kämpft mit den Amici dei Navigli und weiteren Mailänder Bürgerinitiativen dafür, einen Teil der historischen Kanäle wieder zu öffnen – insbesondere die Fossa Interna, die früher die Innenstadt fast wie ein Ring umschloss. „Technisch wäre das möglich. Wir haben mit dem Polytechnikum aufwendige Studien gemacht“, sagt Rosti. 2011 half er bei der Organisation eines Referendums: Rund 94 Prozent der Mailänder, die ihre Stimme abgaben, stimmten für die Wiederöffnung der Navigli. Gesetzlich bindend ist das aber nicht. „Und es fehlt am Geld“, sagt Rosti bedauernd.

Seit einigen Jahren schreibt er historische Romane über Mailand, in denen Wasser und das Kanalsystem eine wichtige Rolle spielen. Im wahren Leben hat zumindest die Renovierung des Hafenbeckens Darsena begonnen, das über Jahrzehnte halb zugewuchert war. Zufrieden beobachtet Rosti die Bagger, die hektisch hin- und herrattern. Bis zur Expo-Eröffnung im Mai 2015 sollen hier Landebrücken zum Flanieren und ein offener Markt entstehen. Auf dem Bauzaun steht: „Endlich sitzen wir alle im selben Boot“. Die Mailänder erobern sich ihre Wasserstadt zurück.

Der (gekürzte) Text stammt aus der aktuellen Zeitschrift „Merian Mailand“, die für 8,95 Euro erhältlich ist