Auf der 35 Quadratkilometer großen Insel, Norfolk Island, hinter Australien leben Nachfahren der berühmten Seeleute. Es gibt aber noch mehr Skurriles – wie das Spitznamen-Telefonbuch.

Kurios und weltweit einzigartig ist das Telefonbuch der Pazifik-Insel Norfolk Island. Denn die Telefonteilnehmer sind dort auch mit ihren Spitznamen (Nicknames) aufgelistet. Sie heißen zum Beispiel Cowboy, Sparks, Moonie, Foxy, Little Pooh, Monkey, Toofy oder Honey und werden in einem Extra-Verzeichnis („Fast find a person by their nickname“) mit ihrer jeweiligen Telefonnummer genannt. Zusätzlich kann man die Insulaner mit ihren richtigen Namen im „normalen“ Teil des Telefonbuches finden.

Und gleich noch mehr Sonderbares der landschaftlich äußerst fotogenen Insel: Frei umherlaufende Kühe – ein Symbol Norfolk Islands – haben stets Vorfahrt. Unbekannt sind Straßenbeleuchtungen (Taschenlampe mitbringen!), Verkehrsampeln und öffentliche Verkehrsmittel – es gibt nur ein Taxi, doch mehrere Mietwagen-Firmen. Zu den sympathischen Besonderheiten der Insel gehört der „Norfolk Wave“: Autofahrer winken einander zu, auch Fußgänger werden mit dieser netten Geste erfreut.

Das Interessanteste an der nur 35 Quadratkilometer großen Insel ist jedoch: Hier leben viele Nachfahren der legendären „Bounty“-Meuterer von 1789. Stolz tragen sie einen der berühmten Namen ihrer bedeutenden Verwandten – Christian, Adams, Young, Quintal, McCoy und so weiter.

Norfolk Island ist ein selbstverwaltetes Außenterritorium von Australien, hat rund 1600 Einwohner (Tendenz abnehmend) und liegt im südwestlichen Pazifik, etwa 1400 Kilometer vor der australischen Ostküste und 1100 Kilometer nordwestlich von Auckland in Neuseeland. Typisch für die bergige Insel vulkanischen Ursprungs sind die immergrünen Norfolk Pines. Das abseits gelegene Fleckchen Erde hat nur einen „richtigen“ Ort: das Geschäftszentrum Burnt Pine in der Inselmitte. Als Regierungs- und Verwaltungssitz fungiert die kleine Siedlung Kingston an der Südküste mit historischen Ruinen und restaurierten Kolonialgebäuden.

Phil, der Fahrer des einzigen Taxis, stammt vom australischen Mutterland, er genießt nun die Ruhe und den entspannten Lebensstil auf der Insel. „Und die tolle Landschaft, die saubere Luft, die Freundlichkeit der Leute und die Sicherheit. Hier hat man noch Respekt voreinander!“ Alle leben in Harmonie, jeder kennt jeden.

Einkommenssteuer muss niemand zahlen, aber eine Mehrwertsteuer von zwölf Prozent. Die Insel ist nicht dem australischen Steuer- und Sozialversicherungssystem angeschlossen. Phil beklagt die hohen Lebenshaltungskosten. Ein erster Einkauf im Supermarkt Foodland des Shopping Centre Norfolk Mall wird wohl für jeden Touristen zum Schock-Erlebnis angesichts der enormen Preise. Fast alle Waren werden per Flugzeug oder Schiff von Australien oder Neuseeland transportiert. Das Angebot ist nicht sehr umfangreich.

Eine nennenswerte Kriminalität gibt es auf Norfolk Island nicht. Nur einmal, 2002, wurde das friedliche Südsee-Idyll nachhaltig durch ein Verbrechen gestört: den Mord an Janelle Patton, einer jungen Frau vom Festland. Für das Selbstverständnis der Insulaner war es sehr wichtig, dass niemand von ihnen die Tat begangen hatte. Der Mörder kam aus Neuseeland und verbüßt in Sydney eine 24-jährige Haftstrafe. Um Norfolk Island besser zu verstehen, muss man die wechselvolle Geschichte seiner Besiedelungen kennen. Der Seefahrer James Cook hatte 1774 die damals noch unbewohnte Insel entdeckt und sie für England in Besitz genommen. Ein Monument an der steilen Nordküste, die wir wegen ihrer wilden Schönheit zu unserem Lieblingsplatz erkoren, erinnert daran. Die erste Besiedelung begann 1788: Sträflinge, ihre Bewacher und freie Siedler kamen aus dem benachbarten Australien, wo einige Wochen zuvor von England die Sträflingskolonie New South Wales gegründet worden war. Den Außenposten gab man 1814 wieder auf.

Elf Jahre später entschied England, Norfolk Island erneut zur Sträflingskolonie zu machen – diesmal für die „schlimmsten männlichen Verbrecher“ der Kolonien Australiens. Die Lebensbedingungen der Gefangenen waren so brutal, dass die Insel bald als „Hölle auf Erden“ bezeichnet wurde. Das Ende dieser Schreckenszeit kam 1855 mit der Auflösung der Kolonie. Norfolk Island war wieder menschenleer.

Doch bereits im folgenden Jahr begann das dritte und letzte Kapitel der turbulenten Besiedelungsgeschichte, als am 8. Juni 1856 die 194 Nachkommen der berühmten „Bounty“-Meuterer von Pitcairn Island im südöstlichen Pazifik an der Küste von Norfolk Island landeten. Damit sah die Insel endlich einer besseren Zukunft entgegen.

Die Meuterei auf dem englischen Segelschiff „Bounty“ war 1789 von Leutnant Fletcher Christian angeführt worden. Auf der Suche nach einem Zufluchtsort erreichte er 1790 mit acht Gefährten sowie sechs Männern und zwölf Frauen von der zuvor besuchten Insel Tahiti das unbewohnte, nur viereinhalb Quadratkilometer große Pitcairn. Aber im Laufe der Zeit wurde für die wachsende Einwohnerzahl die Insel zu eng. So ordnete 1856 das britische Königshaus – Pitcairn war seit 1838 Kronkolonie – die Umsiedelung der Bevölkerung zum circa 6000 Kilometer entfernten Norfolk Island an. Alle neun Meuterer waren inzwischen tot, sechs von ihnen ermordet. Mehrere Familien kehrten später aus Heimweh zurück nach Pitcairn Island. Deshalb ist diese isolierte Insel noch heute bewohnt, etwa 50 Menschen leben dort.

Von der heutigen Bevölkerung Norfolk Islands ist rund ein Drittel Nachkommen der „Bounty“-Meuterer, sie werden „Islanders“ genannt. Der zugewanderte Rest, die „Mainlanders“, stammt zu je einem Drittel vorwiegend aus Australien und Neuseeland. Berühmteste Insel-Bewohnerin ist die australische Schriftstellerin Colleen McCullough, Autorin des verfilmten Kult-Romans „Die Dornenvögel“.

„Ich bin hier der einzige lebende Bewohner, der auf Pitcairn Island geboren wurde – ein direkter Nachfahre der achten Generation von Fletcher Christian.“ So stellt sich Trent Christian vor, der Fahrer und Guide unserer Insel-Rundfahrt des örtlichen Tour-Unternehmens Pinetree Tours. „Anfang der 90er-Jahre kam ich nach Norfolk Island“, erzählt der stets fröhliche Insulaner weiter. Er hat zwei Pässe, einen britischen (Pitcairn gehört zu Großbritannien) und einen australischen (Norfolk ist ja ein Teil von Australien).

Trent fährt uns zu einigen der schönsten Regionen der subtropischen Insel. Von seiner Begeisterung angesichts der vielfältigen Küsten-Szenerien, der goldenen Strände, der Hügel und Täler sowie der majestätischen Norfolk Pines lassen wir uns gern mitreißen. Emily Bay an der Südküste, geschützt von einem Korallenriff, sei der populärste Strand, sagt Trent. Das von Touristen am häufigsten geknipste Fotomotiv ist der Blick vom Aussichtspunkt „Queen Elizabeth Lookout“ zu den zwei vorgelagerten Felsen-Inseln Nepean Island und Phillip Island.

Die Tour führt uns weiter zu den Ruinen und Gebäuden aus der Kolonialzeit in Kingston. Ein Rundgang dort und auf dem angrenzenden Friedhof wird zum Geschichtsunterricht. Viele Grabstein-Inschriften zeigen nicht nur Namen und Lebensdaten verstorbener Meuterer-Nachfahren, sie dokumentieren auch Schicksale aus den Jahren der Sträflingskolonien wie zum Beispiel Hinrichtungen von Häftlingen. Die Kingston-Region als ein Freilichtmuseum ist auf der Liste des Unesco-Weltkulturerbes notiert.

Stirbt einer der Insulaner, und zwar egal wer, dann wird halbmast geflaggt

Ein bemerkenswertes Beispiel für den engen Zusammenhalt der Bevölkerung erfahren wir von Trent: „Stirbt einer unserer Bürger – egal ob arm oder reich und welchen Beruf er hatte –, dann wird halbmast geflaggt, am Tag des Todes und am Tag der Beerdigung.“

Zehn Tage waren wir auf Norfolk Island – eigentlich zu kurz. Mehr Zeit hätten wir für die Museen und für Wanderungen im Nationalpark gebraucht. Besuche im Pitcairn Settler’s Village und im Cyclorama, einem Gemälde-Panorama zur „Bounty“-Story, schafften wir noch, die „Mutiny on the Bounty Show“ schauen wir uns nächstes Mal an.

Im Kontrast zu all dem Schönen und Interessanten von Norfolk Island steht die Tatsache, dass die Insel in einer tiefen finanziellen und wirtschaftlichen Krise steckt. Dramatisch ist der Rückgang der Touristenzahlen. Kamen einst jährlich rund 40.000 Besucher – vor allem ältere Touristen aus Australien und Neuseeland –, sind es jetzt nur noch 22.000.

Da die wichtigste Einnahmequelle der Fremdenverkehr ist, hat das ernsthafte Folgen. In Burnt Pine sehen wir viele „For Sale“-Schilder vor leer stehenden Geschäften, Wohnhäusern und Touristen-Unterkünften. Die Insel muss große Herausforderungen meistern. Ein Zehnjahresstrategieplan soll den Tourismus jedoch zu früherer Stärke zurückbringen.

Auf dem Sonntagsmarkt, wo Souvenirs, Bücher, Kleidung, Kuchen, selbst gemachte Marmelade und Gemüse angeboten werden, treffen wir an unserem letzten Tag Trent Christian wieder – diesmal als Entertainer. Er spielt Gitarre und singt leidenschaftlich Lieder von Norfolk Island und Pitcairn Island. Wir kaufen eine seiner CDs und lauschen dabei dem Song „Welcome to Norfolk Island“.