Dünn besiedelt und naturnah, ist dieser Teil Polens nicht gerade für den Massentourismus geschaffen. Doch es herrscht Aufbruchstimmung, zum Beispiel im Weinbau

Sanfte Hügel, bunter Herbstwald, stahlblauer Himmel und ein Glas Wein aus der Region. Was klingt wie Rheinhessen oder Toskana, findet sich auch im südöstlichsten Zipfel Polens: Das Karpatenvorland (polnisch Podkarpacie) hat mit den Schauergeschichten des Grafen Dracula in den rumänischen Karpaten nichts gemein. Zwar gab es auch hier Fürsten und Grafen in hochherrschaftlichen Residenzen. Doch hinterließen sie keine Sagen über blutrünstige Vampire, sondern Schlösser und Burgen, die heute zum Teil zu gehobenen Hotels mit günstigen Preisen umgebaut oder als Sehenswürdigkeiten zu besichtigen sind. 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist die Region längst dabei, ihre Kultur- und Naturschätze touristisch zu vermarkten. Bislang besuchen fast nur Landsleute die Region.

Dünn besiedelt und naturnah, ist das Karpatenvorland nicht für den Massentourismus geschaffen. Eher für Reisende mit Entdeckersinn. Es herrscht Aufbruchsstimmung. Nach den Jahrzehnten des Kommunismus begeben sich experimentierfreudige Einwohner mit mehr oder weniger Geld zum Investieren auf die Suche nach Erfolg versprechenden Geschäftsideen. Dazu gehört der Weinbau. „Wir haben unser Weingut 2004 gegründet. Unser Ziel ist es, einmal fünf Hektar zu bewirtschaften“, sagt Tomasz Stójewski vom Weingut Winnica Dwie Granice. Es liegt am Rande des Städtchen Jaslo, zwei Autostunden vom Flughafen Krakau entfernt. Drei Hektar sind bereits bepflanzt, auf 1,2 Hektar stehen Reben, die Früchte tragen. Die Jahresproduktion von 4000 Litern Wein ist überschaubar und wird lokal verkauft oder in Form von Weinproben unter die Leute gebracht.

Rund 150 Weingüter machen die Woiwodschaft (so was wie Bundesland) Podkarpackie zur wichtigsten Weinbauregion des Landes. Viele Reben wachsen bei Hobbywinzern, doch eine zunehmende Zahl von Weingütern beginnt daraus allmählich ein Geschäft zu machen. Die Gegend um Jaslo gilt als Hochburg des Weinbaus und veranstaltet jeweils im August internationale Weintage. Dabei fußt sie auf einer langen Tradition: Schon im neunten Jahrhundert wurde hier Wein angebaut. Im 17. Jahrhundert haben ungarische Weine allmählich die polnischen Tropfen verdrängt, in Zeiten des Kommunismus wurde statt Wein Wodka getrunken.

Eine gute Adresse für Weinfreunde ist das Schlosshotel im Örtchen Kombornia nahe der Stadt Krosno. Ort und Residenz gehen auf das 14. Jahrhundert zurück, Schlesier waren die ersten Siedler. Hotelmanagerin Katarzyna Hamela hütet in einem Kellergewölbe aus dem 18. Jahrhundert rund 100 Weine aus Südosteuropa; eine große Landkarte zeigt die Weinbauregionen. Gäste können für umgerechnet gut zehn Euro eine Stunde lang probieren, so viel sie wollen – etwa 50 Weine sind dazu ständig geöffnet.

Neben Wein und Weingütern gibt es traditionelle oder neue Brauereien sowie Wodka-Destillerien, die Besucher empfangen und zum Trinken animieren. Und in jedem größeren Ort finden sich Restaurants oder kleinere Familienbetriebe, die ihren Gästen polnische Spezialitäten auftischen. Die Region wurde von vielen Volksgruppen besiedelt, entsprechend vielfältig ist die Küche. So finden sich russische Piroggen (Teigtaschen) mit verschiedenen Füllungen, in Pfannkuchenteig gebratene Sauerkrautplätzchen mit Sauerrahm, Frikadellen aus Schweinefleisch und Buchweizengrütze, zarter Schweinebraten in verschiedensten Variationen und vieles mehr – meist sehr geschmackvoll, aber auch kalorienreich.

„Kulinarisch haben wir viel zu bieten. Mit 162 eingetragenen Traditionsprodukten stehen wir auf der Liste der polnischen Regionen ganz oben. Andere haben keine 100, manche nur ein gutes Dutzend“, sagt Jaroslaw Reczek, Tourismuschef der Woiwodschaft in der Hauptstadt Rzeszów. Zumindest in den größeren Städten kann der des Polnischen Unkundige damit rechnen, dass die Speisekarte auf Englisch übersetzt ist.

Gut gestärkt, kann Bewegung nicht schaden. Die Ostbeskiden – der gebirgige Teil im Süden des Karpatenvorlandes – laden zum Wandern ein, im Winter auch zum Skifahren. Pferdeliebhaber werden mit Reiterurlauben umworben. Die großen Stars sind kleine robuste Bergponys, die Huzulen. Diese für die Region typische Rasse war bereits selten geworden und wird nun gezielt nachgezüchtet. Die Huzulen sollen auch als Zugpferde dem Tourismus dienen. Nicht nur als Reitpferde oder vor Kutschen gespannt, auch therapeutisch (Hippotherapie), bei Paraden und Reiterspielen.

In der Gebirgsregion an der polnisch-ukrainischen Grenze liegt Polens größter Stausee, der Solina-See. Der Name erinnert an das Dorf Solina, das zusammen mit weiteren Dörfern nach dem Bau der 82 Meter hohen Staumauer durch den Fluss San geflutet wurde. Heute steht Solina für eine Feriensiedlung. Auf dem See ziehen auch im Oktober noch Segelboote ihre Runden, im Sommer wird gesurft und gebadet. Und an sonnigen Wochenenden spazieren Tausende Besucher über die 664 Meter lange Staumauer des Flusses San.

Östlich des Sees liegt der Bieszczady-Nationalpark, mit 292 Quadratkilometern Polens größter Gebirgsnationalpark. Ein rund 130 Kilometer langes Netz aus Wanderwegen erschließt das Schutzgebiet, in dem noch Bären, Wölfe und Luchse leben, ebenso Elche, der Karpatenhirsch und wieder angesiedelte Wisente. Karolina Kiwior arbeitet dort als Bergretterin. Vor Bären oder Wölfen musste sie noch niemanden retten. „Die Leute können sich in der Waldregion leicht verirren. Einige unterschätzen schlechtes Wetter – oder überschätzen sich selbst. Immerhin hat man in vielen Gebieten Handy-Empfang, sodass man um Hilfe rufen kann.“

Die Baumgrenze liegt in der Berglandschaft der Bieszczady bei relativ niedrigen 1150 Metern – in den deutschen Alpen sind es rund 1800 Meter. Oberhalb dieser Höhe liegen die Poloniny: artenreiche Gebirgsweiden, die die Kuppen wie grüner Samt überziehen. Die Wildnis profitierte von der Tatsache, dass 1947 die Volksstämme der Lemken und Bojken von der polnischen Armee deportiert wurden, weil sie angeblich ukrainische Partisanen unterstützt hatten. Die Menschen wurden in die Sowjetunion oder innerhalb Polens zwangsumgesiedelt. Ihre Häuser wurden zerstört oder dem Verfall preisgegeben. Heute zeugen nur noch die orthodoxen Holzkirchen von der untergegangenen Kultur der bäuerlich lebenden ursprünglichen Bewohner.

Holzkirchen sind ständige Begleiter bei der Fahrt durch die Region – meist auf gut ausgebauten oder zumindest neuen Straßen. Die gotischen katholischen Kirchen von Haczów und Blizne adelte die Unesco mit dem Weltkulturerbe-Titel, ebenso sechs weitere Kirchen in der benachbarten Woiwodschaft Kleinpolen. Die Kirche in Haczów gilt als größte gotische Holzkirche der Welt. Das Kirchenschiff ist mit einer Art Laubengang umgeben. Diesen Teil nennen die Polen „Sonnabend“: Häufig reisten die braven Christen aus weiter Entfernung an und übernachteten am Fuße der Kirche, um am Sonntagmorgen rechtzeitig zur Messe zu kommen. Natürlich dürfen auch die Holzkirchen beim touristischen Aufbruch nicht fehlen. Sie sind Teil der „Route der Holzarchitektur“.

Die Glasindustrie der Stadt Krosno ist die bedeutendste des Landes. Die „Krosno Miasto Szkla“, die „Glasstadt“ direkt am Marktplatz ist ihr Aushängeschild. In einem Schaumuseum können Besucher erleben, wie Glasskulpturen gezogen oder geblasen werden, und dürfen sich auch selbst daran versuchen. Die unförmigen Resultate in der Größe eines Tetrapaks werden allerdings anschließend sofort wieder zerbrochen und recycelt.

Krosno feiert sich auch als Wiege der Ölindustrie. Anno 1854 wurde hier weltweit erstmals Erdöl gefördert. Selbst John D. Rockefeller soll damals aus dem fernen Amerika angereist sein, um das „Ölbergwerk“ zu studieren – mit brillantem Ergebnis, das ihn zu einem der reichsten Menschen auf Erden machte. Passend zum Öl wurde in der Region die Petroleumlampe erfunden. Europas größte Petroleumlampen-Sammlung erinnert an das Ereignis.

Neben Krosno mit seinen knapp 50.000 Einwohnern lohnt sich ein Besuch der Städte Sanok (40.000 EW) und Rzeszów (168.000 EW). Letztere bietet das größte Hotelangebot – und eines der schönsten Schlösser der Region in der Nachbarschaft: Lancut gehört zu den prachtvollsten Anlagen Südpolens, hier residierte die Magnaten-Familie Lubomirski. Heute sind Teile des Schlosses zu besichtigen, ebenso der Park und die Gartenanlagen, die im Herbst ein imposantes Farbenspiel von Grüngelb bis Weinrot bieten.

Ein gepflegter Marktplatz mit historischen Gebäuden bildet in Rzeszów, wie auch in Krosno und Sanok, den Stadtmittelpunkt. Er ist allseits mit Restaurants und Kneipen umgeben. Wer hier das Glück hat, im Oktober noch laue Nächte im Freien verbringen zu können, fühlt sich wie in südlichen Gefilden. Wie in der Toskana vielleicht oder zumindest wie in Rheinhessen.