Die Hauptstadt des Elsass hat sich aufgemacht, eine der modernsten Metropolen Europas zu werden – und holt dabei ihre Bürger mit ins Boot. Die Geschichte eines Erfolgskurses

Man merkt es erst gar nicht. Wer hier aus dem Zug steigt, verlässt den Bahnhof durch den verschnörkelten Fin-de-Siècle-Torbogen, der aussieht, als ob dahinter noch immer Kohle in die Dampfloktender geschaufelt würde. Durchquert den gläsernen Vorbau, der wiederum wirkt, als hätten Außerirdische das Dach ihres Ufos vergessen. Man geht die Grand’ Rue entlang. Und bald ragt über den Dächern der Fachwerkhäuser die Spitze des Münsters hervor, wie ein Magnet zieht es einen an, nahezu magisch.

Und dann fällt auf, was hier so anders ist: Alle gehen. Keiner fährt.

Dazu diese sonderbaren Ampeln. Sie sind in hüfthohen Pfeilern installiert. Paarweise an Straßeneinfahrten, in der Mitte ein dicker Poller. Irgendwann fährt doch mal ein Auto vor. Hält. Die Ampeln blinken, und wie von Geisterhand gleitet der Poller in den Boden und lässt den Wagen passieren. Dann kommt eine Straßenbahn um die Ecke, rattert nicht, sondern schnurrt fast wie ein Kätzchen. Stromlinienförmig und schlank. Fortschritt, das also auch noch.

Dieses Straßburg hat eine kuriose Mischung im Angebot: Europaparlament und Sauerkrautküche, Fachwerk und Kaiserpomp, Frankreich und Deutschland, die kleinen Brücklein und das mächtige Münster. Und zu allem Überfluss ist es mittlerweile auch noch eine der städtebaulich modernsten Metropolen Europas, punktet mit dem größten Fahrradwegenetz Frankreichs, einer Tram und einer nahezu autofreien Innenstadt. Straßburg ist das Vorzeigekind aller Urbanisierungsdebatten.

Es ist ein Wunder, dass diese Stadt nicht aus allen Nähten platzt vor lauter Vielfalt. Aber schon wenn man das Münster und seine Geschichte betrachtet, versteht man: Es ist Teil ihrer historischen DNA, Vielfalt zu vereinen.

Schwer zu sagen, wann das Münster beeindruckender ist: Tagsüber kann man stundenlang die Figuren an der Fassade bestaunen, die Heiligen, die Könige, die Tiere. Nachts ist es eine riesige dunkle Wand, die Menschentrauben bleiben am Vorplatz stehen. Aber wer näher ans dunkle Hauptportal tritt, der sieht erst richtig, wie hier alles himmelwärts strebt in diesem gotischen Machwerk, der spürt diesen Sog nach oben, hin zu einer höheren Macht.

Nur ist es so eine Sache mit Straßburg und den Mächtigen. Werner von Habsburg, Bischof und Vertrauter der deutschen Kaiser, initiierte 1015 einen ersten Bau an dieser Stelle. Aber 250 Jahre später scheuchten die Straßburger Werners Nachfolger aus der Stadt. Die Stadt war unabhängig – zumindest bis die nächsten mächtigen Herren übernahmen. Und es waren viele, die kamen und gingen: Franzosen und Deutsche, die Habsburger, die Bourbonen, Napoleon, die Preußen, die Nazis.

Die Straßburger haben ihre Herren nicht nur ertragen. Sie haben regelrecht eine Kunst daraus gemacht, sich um die eigene Stadt zu kümmern – möge herrschen, wer gerade will. Und möge er dalassen, was er gerade mitbringt.

Die Münsterbauhütte arbeitet noch heute nach diesem Prinzip. „Jeden Stein bearbeiten wir mit traditionellen Werkzeugen und nach alten Techniken“, sagt Albert Martz. Der Chef der Bildhauer steht in einem alten Gebäude hinter dem Musée de l’Œuvre Notre-Dame. Von den Decken hängen moderne Schläuche, auf dem Holzboden stehen bröckelnde Skulpturen und solche, die neu wirken, dazwischen welche, von denen man nicht genau sagen kann, ob sie alt oder neu sind.

Das ist das Ziel: „Die Steine müssen authentisch sein“, sagt Martz. Schon während des Baus des Münsters vor mehr als 750 Jahren übernahm die Stadt die Bauhütte, die sich bis heute um den Erhalt des Gotteshauses kümmert. Damit das Ergebnis authentisch bleibt, ist vor allem eines gefragt: kluges Integrieren. Mal haben die Franzosen am Münster gearbeitet, mal die Preußen, jeder auf seine Art.

Mit bloßem Auge können die Restauratoren erkennen, aus welcher Epoche ein Stein stammt. Wenn sie Steine ersetzen, imitieren sie die ursprüngliche Methode. „Damit die neuen sich wie alte einfügen“, sagt Martz. Und dann sagt er diesen Satz, der nicht nur für das Münster gilt: „Jeder Stein ist anders, aber sie müssen zusammenpassen.“

Ganz Straßburg ist ein Mosaik, zusammengesetzt aus den Steinen aller Zeiten: Da wäre die fast klischeehaft ursprüngliche Altstadt, das Viertel Petite France westlich des Münsters. Hier drücken sich Fachwerkhäuschen wie gebeugte alte Männlein ans Ufer der Ill. Im 16. Jahrhundert war das protestantische Straßburg eine Freie Stadt, die Handwerker hatten das Sagen, und es entstanden Bauten wie die Gerwerstub (Maison des Tanneurs), ein Gerberhaus, das krumm unter der Last der eigenen, verwegen verzweigten Dächer ächzt. Die Balkone quellen über vor Geranien. Heute wird hier für die Touristen gekocht. Wer sich durch die gasthausgesäumten Gassen drückt, dem steigt überall der Duft alter Zeiten in die Nase: dampfendes Sauerkraut.

Mondäner sieht es im Norden aus: 1681 nahm König Ludwig XIV. Straßburg ein, prunkvolle Stadtpaläste wurden hochgezogen. Ein besonderes Prachtstück ist die Aubette, ein lang- gezogener klassizistischer Bau und ursprünglich die Hauptwache, vor der die Garde im Morgengrauen (französisch: aube) neue Befehle erhielt.

Auch die Preußen ließen sich nicht lumpen. Westlich der Ill-Insel ließ Kaiser Wilhelm I. wuchtige Gründerzeitbauten hochziehen. Man hatte die Preußen nicht gebeten zu kommen, aber wo sie nun mal da waren und ihre Häuser hinterlassen hatten: auch recht. Das Palais du Rhin im Kaiserviertel ist heute der wohl eleganteste Sitz einer Kulturbehörde im Land. Wer hier Formulare abliefert, steigt eine Treppe aus Marmor empor, neben der kleine Springbrunnen Fontänen ausspucken.

Und dann ist da noch Europa. Im Nordosten der Stadt residiert das Parlament in einer Art futuristischem Demokratiesilo, daneben der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der Europarat, der Europäische Filmfonds Eurimages, die Europäische Arzneibuchkommission und so weiter.

Die zahlreichen Herren und Gäste haben auch die Mentalität der Straßburger geprägt. „Wir haben gelernt, uns mit Neuem zu arrangieren und zu kooperieren“, sagt Philippe Junger. Dank dieser Fähigkeit besitzen die Straßburger heute zum Beispiel einen außergewöhnlichen Weinkeller in ihrem Bürgerspital. Früher bezahlte die Landbevölkerung ihre Behandlung oft mit Trauben oder Wein, der dann im Kellergewölbe des Hospitals gelagert wurde. Da seit der Einführung der Krankenversicherung durch Bismarck die Traubenwährung aus der Mode kam, blieben die Fässer leer, und in den 1990ern sollte der Keller endlich ausgeräumt werden.

Aber Junger überzeugte nicht nur seinen Chef, den Keller zu reaktivieren, sondern auch die Elsässer Winzer, ihre besten Weine dort einzulagern. Das Hospital behielt den Keller, verdient am Ladenverkauf, die Winzer dürfen mit dem Siegel „Cave Historique des Hospices de Strasbourg“ werben, und jedes Jahr freuen sich alle, wenn die Weinkritiker der Welt in Straßburg zusammenkommen, um neue Weine zu verkosten.

Die Fähigkeit zum Zusammenarbeiten hat hier schon so einiges möglich gemacht. Wer sich mit Julia Reth und Pierre Litzler unterhält, kommt gar nicht mehr hinterher bei all den Kooperationen. Sie kümmert sich an der Kunsthochschule um „Internationale Beziehungen“, er ist Direktor der Kunstfakultät der Universität Straßburg. Sie erzählen vom Tomi-Ungerer-Museum und dem Museum für Moderne und Zeitgenössische Kunst, von den 53.000 Studenten in den verschiedensten Fakultäten und den internationalen Projekten mit anderen Städten wie Basel, Freiburg, Offenburg oder Kehl. Die Frau, die für den Wandel in Straßburg verantwortlich ist, sitzt in ihrem Büro in der Stadtverwaltung, wo im Eingangsbereich Treppen sternförmig zum Foyer hochführen, was, nun ja, etwas von Zusammenkommen hat. Catherine Trautmann, ehemalige Bürgermeisterin, Ex-Kulturministerin und ehemalige Europaparlamentsabgeordnete, sagt, dass ihr Einsatz für den Fortschritt sehr mit ihrer typischen Straßburger Biografie zusammenhänge.

Trautmann, Jahrgang 1951, ist ein Nachkriegskind. Wie die anderen Kinder machte sie damals Witze über die Deutschen, diese Nazis. Einem rief sie auf der Straße „Kartoffelkäfer“ hinterher. Ihr Vater schimpfte: Eine Straßburgerin sollte es sich nicht so einfach machen! Hatten nicht zwei ihrer Onkel im Krieg gekämpft, der eine für Deutschland, der andere für Frankreich? „Schau über die Grenze: alles zerstört. Das ist genug Strafe“, sagte er. Er führte die kleine Catherine zum Europahaus, wo damals der Europarat saß. „Das ist die Zukunft: Menschen reden miteinander, statt zu kämpfen.“

Jahrzehnte später, 1989: Die Innenstadt erstickte im Verkehr, die Leute zogen aus dem Zentrum weg, es drohte eine Altstadt, okkupiert von Touristen, nur Büros und Geschäfte und nachts ausgestorbene Straßen. Bürgermeisterkandidatin Trautmann schlug eine Fußgängerzone, Radwege und eine Straßenbahn vor, ihr Konkurrent eine U-Bahn. Und die Bürger? Wollten vor allem ihre Ruhe. „Sie dachten: Eine Frau, noch dazu Sozialistin, kann das sowieso nicht umsetzen. Darum haben sie mich gewählt“, sagt sie schmunzelnd. Sie hatten aber etwas vergessen: Man sagt den Straßburgern nach, dass sie pedantisch wie Preußen seien, formbewusst wie Franzosen – und aufgeschlossen wie moderne Europäer. Nun: Trautmann ist Straßburgerin. Die Tram: sollte sich ins Alte einfügen, so wie ein neuer Stein im alten Münster. Alles sollte stimmen: günstige Parkhäuser, von denen man in die Tram wechseln kann, die Radwege breit, die Tram so niedrig, dass man ohne Probleme Räder mitnehmen kann.

Und sie holte die Straßburger mit ins Boot: Rund 500 Bürgerveranstaltungen hielt Trautmann ab, ließ die Haltestellen-Ansagen von Menschen aus der Stadt aufs Band sprechen. Sie setzte das Vorhaben in einer Legislaturperiode um – und wurde wiedergewählt. „Ich glaube, heute sind die Straßburger stolz auf ihr Zentrum“, sagt sie. Irgendwie sei es ja lustig: dass es ausgerechnet eine Straßenbahn war, für die Straßburg heute so gelobt wird. Ein Fahrzeug, das lange als altmodisch galt. Sie lacht. „Vielleicht ist sie ein Symbol für diese Stadt: das Alte nehmen und daraus etwas Neues machen.“