Der 750 Kilometer lange Alpe Adria Trail ist ein Ergebnis europäischer Verständigung

Ländergrenzen sind unsichtbar geworden. Der Wanderer läuft munter über Stock und Stein, durch Kärnten auf dem Alpe Adria Trail immer in südliche Richtung und bemerkt kaum, dass zweisprachige Ortsschilder auftauchen. Kein Schlagbaum, kein Ausweis, keine Wechselstube. Und doch hat man Österreich soeben verlassen und ist ins Nachbarland Slowenien eingereist. Vom Großglockner über den Nationalpark Triglav zum italienischen Badestrand in einer Tour – drei Länder in 43 Etappen. Der Weitwanderweg ist sozusagen ein Friedenstrail, ein Ergebnis europäischer Verständigung.

Nach den Kärntner Ostalpen beginnt mit den Julischen Alpen ein Gebirge, das Kontinentaleuropa vom Mittelmeer trennt. Der Triglav (Dreizack), eine 2864 Meter hohe Auftürmung aus Kalkgestein, ist nicht nur der höchste Berg, sondern auch das Wahrzeichen des Alpenrandlandes. Der Ski-Weltcup-Ort Kranjska Gora hieß zur Zeit der Habsburger Monarchie Kronau. Hier wartet Bergführer Nejc Šerbec, der Begleiter auf den Etappen in Gorenjska und dem Nationalpark Triglav. „Der Trail ist hier schlecht ausgeschildert“, beginnt der durchtrainierte Slowene in gutem Englisch und lässt die Wanderer rätseln, ob er vielleicht nur für sich und seine Zunft werben will. Denn die 750 Kilometer lange Wanderstrecke wurde erst 2012 eröffnet. Wenn alles immer glattgehe, gebe es schließlich keine Abenteuer, erklärt er fidel.

Auf einem alten Eselspfad geht es bergan zum Vršič-Pass, dem höchsten in Slowenien. Unterwegs erinnert eine russische Holzkapelle daran, dass die Alpenstraße erst um 1914 gebaut wurde. Die Spuren der Vergangenheit erreichen den Wanderer an vielen Stellen. Denn ein Großteil des heutigen Nationalparks war im Ersten Weltkrieg Schauplatz der sogenannten Isonzofront, an der sich Italien und Österreich-Ungarn 29 Monate lang blutige Kämpfe lieferten. Überall im Soča-Tal erinnern Soldatenfriedhöfe, Militärkapellen, Schützengräben und Festungen an die Gefechte.

Doch die friedliche, reizvolle Gebirgslandschaft versöhnt mit den Ereignissen von damals. An einem Aussichtspunkt erblickt man das Prisank-Massiv, eine mächtige Nordwand, die nur etwas für gute Kletterer sei, sagt Nejc. Nicht nur physisch, auch für die Orientierung sei sie eine enorme Herausforderung.

Wegweiser, das zeigt sich schnell, sind auf der Wanderstrecke tatsächlich Mangelware. Ohne GPS, eine gute Wegkarte oder einen Guide wären unterwegs wohl genügend Abenteuer sicher. Nach dem Vršič-Pass passiert man bergiges, aber nicht alpines Gelände. Ins Trentatal führen Schotterwege und Baumwurzelpfade, man läuft am Fluss Limarica entlang, durch Laubwald, Felder von Christrosen und Heide. „Bleibt schön zusammen“, mahnt Nejc. Wegen der rund 600 Braunbären, die es in den Wäldern gebe, eine enorm hohe Zahl, und alle blicken sich besorgt nach den Tieren um. „Sie bleiben im Wald“, muntert er auf, „es sei denn, ihr hättet Honig dabei.“ Der Slowene kann ein echter Spaßvogel sein. Am Berg geht es ihm allerdings um Ernsteres: um Sport. Blumenbestimmen oder Vögelnlauschen gehören nicht dazu. Er trabt voran wie auf einer Rennstrecke, immer bergab, das trainiere den Musculus quadriceps.

Bei Izvir Soče kann der ambitionierte Wanderer einen Kletterweg zur Quelle der Soča hinaufsteigen. Ein Fluss von erstaunlicher Farbe, der in Italien Isonzo heißt und in den Golf von Triest mündet. Wo er aus einem Felsspalt entspringt, schäumend und donnernd hinabstürzt, erkennt man seine Farbe erst nicht. Doch weiter unten im Tal nimmt die Soča im kreidigen Flussbett einen nie gesehenen Schimmer an, der irgendwo zwischen Cyan, Smaragd, Patinagrün und Gletschereis liegt.

Als die steilste Passage der Klamm überwunden ist, packt Nejc die Legende vom Gamsbock Zlatorog aus. Das geheimnisvolle Fabeltier besaß goldene Hörner und hütete den verborgenen Triglav-Schatz. Eines Tages stellte ihm ein habgieriger Jäger nach und erlegte ihn. Doch aus dem Blut wuchs eine Rose, die Zlatorog das Leben zurückgab. Wütend tötete er erst den Habgierigen, dann zerstörte er das Gebirgsparadies. „Die Sage lehrt, dass die Natur unser größter Schatz ist“, meint Nejc nachdenklich. Kaum gesagt, ist er der Wandergruppe schon wieder weit voraus.

Luftholen in Trenta. Im Gasthaus Gostilna Meteoja stellt der Deutsch sprechende Wirt Božo große Exemplare der heimischen Soča-Forelle auf den Tisch, eine regionale Köstlichkeit. Angelfrisch, duftend, mit Mandeln garniert und dazu Polenta – eine Portion, von der gut zwei satt werden. Am Ende des üppigen Menüs reicht Božo einen türkis schillernden Schnaps. „Echtes Soča-Wasser“, sagt er. Die Farbe zaubert seine Frau mit Dill hinein.

Die nächste Etappe ist mit dem offiziellen Soča-Weg identisch, weshalb der Alpe Adria Trail nicht ausgeschildert ist. Man muss es nur wissen. Im felsigen Trentatal bohrt sich die Soča durch Canyons und Klammen, windet sich an dichten Föhren-, Lärchen- und, weiter unten, Buchenwäldern vorbei. Ohne ihr Türkis zu verändern, passiert sie Wasserfälle, Stromschnellen und Engpässe, weitet sich, um Platz für Rafter und Kanuten zu schaffen. Mehrere Male quert man die Soča über schwingfreudige Bretterhängebrücken. Alles kleine Abenteuer.

Das Soča-Tal verläuft ein paar Etappen später durch die sanfte Hügellandschaft der Region Goriška Brda. Jetzt gut beschildert, gelangt der Wanderer ohne Nejc in eine mediterrane Gegend, in der nicht nur Kirschen wachsen, sondern alle möglichen Früchte, einschließlich Trauben. In den Kellern werden alte Weintraditionen fortgesetzt, sogar das Keltern in Amphoren. Endpunkt der selbst gewählten Etappe ist das mittelalterliche Festungsdorf Šmartno. In einer der malerischen Gassen findet man das Bistro Marica, das Weißwein aus der autochthonen Rebsorte Rebula ausschenkt – frisch, mineralisch, temperamentvoll.

Weiter geht es durch das Land, in dem auch die Zitronen blühen. Die famose Soča war kurz zuvor bei Nova Gorica schon abgebogen und fließt nun fröhlich ihrem Ziel entgegen: Italien, das auch des Wanderers Ziel ist. Erst auf dem letzten Stück wird sie zum breiten Fluss, wo ihr das herrliche Türkis zum Meer hin langsam abhandenkommt.