Wandern von einer Alm zur nächsten am höchsten Gebirgsstock der Berchtesgadener Alpen – bei Almbäuerinnen, Schnapsbrennern und Murmeltieren

Meistens kommen die Ersten gegen zehn, wuchten die Wanderrucksäcke von den Schultern, nehmen auf den Holzbänken vor der Hütte Platz und lauschen in die Stille. Der Morgennebel ist dann bereits aus dem Tal verschwunden, und längst hat irgendwer die Sonne gehisst.

Manchmal knarzen die Bohlen der Terrasse unter den Füßen, ab und zu trägt der Wind das Glockengeläut der Kirche weit unten im Tal herauf und lässt es über der Alm wieder fallen. Und plötzlich muht eine der sechs Kühe auf der saftigen Wiese in sieben Schritten Entfernung – um so vieles lauter, als es mancher Städter bis dato für möglich hielt. Das ist so etwas wie ein Weckruf aus der Träumerei, ein kraftvolles Hier-wird-auch-gelebt! – obwohl nichts vom gewohnten Alltagskrach heraufdringt. Und das solarbetriebene Radio hat Anita Grießner fast nur an, wenn keine Gäste da sind. Sie kommt ganz gut ohne aus, kennt es selber von klein auf, dass nur der Wind die Musik macht, nur die sechs Kühe, drei Schweine, ein paar Hühner und zwei Katzen den täglichen Klangteppich ausbreiten – und die Stimmen der Gäste auf der Terrasse.

Die meisten der Almbauern zu Füßen des Hochkönig-Massivs im Salzburger Land verdienen sich inzwischen etwas damit hinzu, Wanderer zu verköstigen, an zwei, drei Tischen vorm eigenen rustikalen Sommerquartier am Hang tagsüber selbst gebackenes Brot mit Quark und Kräutern zu servieren, dazu hausgemachte Kräuter-Limonade oder Tee aufzutischen, sogar Käse, Bonbons, Honig oder selbst gebrannten Schnaps oder Salben nach überlieferten Rezepturen zu verkaufen. Anita Grießner macht es auf ihrer Mussbachalm nicht anders. An manchen Tagen kommt keiner, an anderen sind nacheinander drei Dutzend Besucher da.

Und am späten Nachmittag, wenn alle längst wieder ihren Wanderhotels im Tal entgegenstreben, hat sie ihre Ruhe zurück – und kümmert sich um die Tiere im Stall, sammelt Kräuter, rührt Salbe gegen Mückenstiche an.

Mehr als 70 bewirtschaftete Almhütten gibt es in der Region oberhalb der Orte Maria Alm und Hinterthal am Hochkönig, dessen Gipfel fast 2940 Meter hoch aufragt. Die meisten sind inzwischen über Wanderpfade oder Wirtschaftswege miteinander verbunden, viele Tagestouren ausgeschildert. Salzburg ist von hier aus etwas mehr als eine Autostunde, München gut zwei Fahrtstunden entfernt. Gefühlt sind beide Großstädte noch viel weiter weg. Und umgeben sind all die Hütten von einem Ring aus Fast-Dreitausendern.

Werner Schafhuber aus Hinterthal kennt hier jede Alm, fast jede Tanne, duzt sich mit den Murmeltieren. Ein halbes Leben lang hat er in der Region als Wanderführer gearbeitet. Wo es am schönsten ist? „Früher war mein Lieblingsplatz der Gipfel des Hochkönigs. 40-mal war ich oben. Heute finde ich es 2000 Meter tiefer schöner – mit Blick auf diesen Ring aus Bergen, auf diese Kulisse wie gemalt. Ich bin glücklich, die Berge von unten zu sehen.“ Wenn er es sich nun zu Hause im Liegestuhl bequem macht und in die Gegend schaut, dann fühlt es sich ohnehin an, als stünde der Hochkönig im eigenen Garten. Und am Ende der Straße, neben der Kirche, vorm Ski-Kindergarten, hinterm kleinen Supermarkt.

Der Hochkönig ist hier überall. Was früher anders war? Damals, als er vor über 45 Jahren hierherzog? „Da war hier die Welt zu Ende.“ Heute gibt es die Straße durchs Tal, ein paar Hotels und Pensionen, sogar Seilbahnen. All die Wanderwege. Und Schnaps aus Vogelbeeren. Anita Grießner ist in der Gegend geboren, ihre Kinder sind auf der Mussbachalm aufgewachsen. Sie mag sich auch heute kein anderes Leben vorstellen: „Im Frühjahr freue ich mich, wenn ich unseren Hof unten im Tal verlassen und endlich wieder mit ein paar Tieren herauf auf die Alm umziehen kann – und ebenso im Herbst, wenn es wieder hinuntergeht.“

Nur die Melkmaschine betreibt die Almbäuerin mit Solarstrom, alles andere muss ohne Elektrizität auskommen. Und auf einen Fernseher verzichtet sie nur zu gern: „Schließlich kann ich aus dem Fenster schauen.“ Aber eine Internet-Mailadresse hat sie: „Nur sage ich die keinem – weil ich sowieso nur im Winter in das elektronische Postfach schaue.“

Schnapsbrenner Siegfried Herzog aus Saalfelden unterdessen weiß genau, was auf welcher der Almen am besten gedeiht – und seinem Kräuterlikör das richtige Aroma verpasst. Von überall aus der Umgebung erhält er die Ingredienzien seiner Schnäpse – und von Juli bis Dezember kommt er kaum zur Ruhe: Dann ist Brennbetrieb von vier Uhr früh bis zehn Uhr abends – weil so viel Obst zur selben Zeit frisch eintrifft. Und so viele Kräuter von den über 70 Almen. Und dann auch noch körbeweise wilde Vogelbeeren, die sein pensionierter Vater zusammen mit Freunden in der Region von Maria Alm, Hinterthal und Saalfelden sammelt – alles in allem ein paar Tausend Kilo im Jahr. Was daraus wird?

Williams-Vogelbeere-Schnaps, einer der Bestseller seiner Brennerei. Schmeckt all das nach dieser Region, nach Bergen und Weite? Der Brennmeister grinst: „Vor allem schmeckt es gut.“ Neben den Wanderern schätzen unterdessen auch Murmeltiere die Region wieder. „Früher,“, erinnert sich Werner Schafhuber, „da waren sie überall hier, wurden dann über die Jahre immer weniger, waren plötzlich so gut wie verschwunden.“ Aber jetzt sind sie zurück – vor allem auf der Enzenalm: „Dort sind die meisten, hocken auf der Wiese und beobachten aufmerksam den Wanderweg.“ Anita Grießner hat auch bereits wieder welche gesehen – zu Hause auf der Mussbachalm. Vermutlich auf der Durchreise.

Wer ganz früh loswandern mag, noch bei Dunkelheit, der kann sogar herausfinden, wie ein Tag auf der Alm beginnt: mit Vogelgezwitscher in der Dämmerung, mit einem Konzert, dessen Klang mit den ersten Sonnenstrahlen durch den Wald und über die Hänge wandert. Mit einem Hahnenschrei keine zehn Minuten danach. Und mit dem Läuten der Kuhglocken weitere 20 Minuten später. Nur im Herbst kommt noch ein Geräusch hinzu – eines, an das man sich gewöhnen muss. Eines, über das man sich beim ersten Mal erschrickt: Es ist das Röhren der Hirsche in der Brunft. Die Herren sind Frühaufsteher. Nachts gegen drei melden sie sich das erste Mal. Was für ein Krach. Und wie herrlich anders als zu Hause.