Island, die mystische Insel aus Feuer und Eis, lässt keinen kalt – erst recht nicht, wenn man zu Fuß unterwegs ist. Dann steht man auf historischem Boden: dort, von wo aus einst Amerika entdeckt wurde. Und dort, wo sich im Jahr 930 eine frühe Demokratie gründete

Zuerst ist nur ein schwarzer Schatten über mir, dann ein kräftiger Flügelschlag, der über meinen Kopf streift. Etwas später wird die Attacke schon handgreiflicher. Von vorn, beinahe im Sturzflug, stößt die große Raubmöwe, den Kopf mit dem klobigen Schnabel weit vorgestreckt, auf mich herab.

Ich habe gerade eine Sekunde Zeit, den Rucksack in die Höhe zu heben, um den Schnabelhieb abzuwehren. Als sie zum dritten Mal angreifen will, packe ich eine Handvoll Kieselsteine und schleudere sie ihr entgegen. Ich treffe nicht, aber sie gibt auf...

Hitchcock lässt grüßen. Keine Frage – wir sind in Bird’s Country. Ringsum auf Hügeln und Kuppeln, die wie dicke, grüne Kissen aus der Wiesenlandschaft ragen, scheinen die Vögel in Lauerstellung zu sitzen. Dicht drängen sie sich zu Kolonien zusammen – Möwen in allen Größenordnungen, Schwärme von Krähen und Küstenseeschwalben. Kreischen und drohendes Krächzen begleiten uns. „Jetzt brüten hier noch viele Seevögel“, sagt Kai, der Leiter unserer kleinen Wandergruppe. „Sie verteidigen ihr Revier gegen Eindringlinge.“ Wir sind froh, als wir nach wenigen Stunden das erste Etappenziel unserer Tagestour erreichen.

Die kleine Kirche steht dort, wo der Weg endet – auf einer kleinen Anhöhe, vor der sich eine weite Sumpffläche ausbreitet, labyrinthisch gesprenkelt mit unzähligen Inselchen, die wie Reste einer versunkenen Festung aus der Ebene ragen. Ein blaugrauer Himmel dehnt sich bis zum Horizont und lässt nur ahnen, wo das Land aufhört und das Meer beginnt.

Das Haus ist nur an dem winzigen Holzkreuz auf dem Giebel als Kirche zu erkennen. Die rote Farbe auf dem Wellblechdach ist verblasst, das Gotteshaus nicht zu betreten, der Schlüssel steckt abgebrochen im Schloss. Immerhin: Die verwitterten Grabstellen rund um die Kirche lassen vermuten, dass hier einst eine Siedlung gelegen haben muss.

Wann und woran sie gestorben sind – einer Epidemie, einer Hungersnot? –, das weiß auch Gudmundur nicht, der Wirt des kleinen Guesthouses in Vogur ganz im Nordwesten Islands, der uns heute auf dieser Wanderung begleitet. Dafür aber kann er viele Geschichten und Legenden aus der Gegend erzählen – so auch die vom Wikingerfürsten Erik Thorvaldsson, der, nachdem er wegen Totschlags verurteilt und aus Island verbannt wurde, sich mit seinen Booten und den wenigen getreuen Gefährten in dieser unübersichtlichen Inselwelt versteckt haben soll.

„Wir stehen hier auf historischem Boden“, sagt Gudmundur stolz, „man kann sagen, dass von hier aus Amerika entdeckt wurde – 500 Jahre vor Kolumbus.“ Sicher übertreibt Gudmundur da ein bisschen, denn Erik Thorvaldsson, wegen seiner flammend roten Haare besser als Erik der Rote bekannt, gelangte auf seiner Flucht nur zur Nachbarinsel Grönland; es war erst sein Sohn Leif Eriksson, der um das Jahr 1000 weiter nach Westen segelte und schließlich nordamerikanischen Boden betrat – als erste Europäer.

Gudmundur, ein stämmiger Selfmademan aus Reykjavik, hat sich in Vogur einen Traum erfüllt. Vor einigen Jahren erwarb er im Nordwesten Islands eine halb verfallene Farm und baute den Schafstall zum Restaurant um, das Farmgebäude zum Guesthouse für Wanderer – gemütliche, etwas spartanisch eingerichtete Zimmer. Schneeweiß leuchtet das Hotel aus dem Grün der Wiesen und Weiden, nur über eine schmale Sandpiste von der Hauptstraße aus zu erreichen. Hinter der Farm wächst ein Tafelberg fast senkrecht in den Himmel – beinahe wie ein Schutzwall gegen Sturm und Regen.

Dieser Tafelberg sei einer der schönsten Aussichtspunkte der Insel, behauptet Gudmundur, von seinem Gipfel aus könne man bei klarem Wetter bis zum Snaefellsjökull gucken, dem wohl berühmtesten Gletschervulkan Islands, dem die Insulaner magische Kräfte nachsagen. Kein Wunder: Halldór Laxness, Islands unvergessener Literatur-Nobelpreisträger, wählte den Berg zum Schauplatz seines geheimnisvollen Romans „Am Gletscher“, und schon 100 Jahre vorher ließ der französische Schriftsteller Jules Verne hier seine berühmte „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ beginnen.

Heute versteckt sich der Snaefjelljökull in einer dunklen Wolke. Dennoch fällt mir ein Zitat des amerikanischen Filmstars Ben Stiller ein, der seinen letzten Film „Das erstaunliche Leben des Walter Mitty“ auf Island drehte: „Die Topografie dieser Insel ist einzigartig. Du steigst auf einen Gletscher, der nur einige Hundert Meter über dem Meeresspiegel liegt, und du fühlst dich, als wärst du auf dem höchsten Punkt der Welt angekommen. So weit das Auge reicht, siehst du nur Lava, Schnee und Eis und diese riesigen Klippen – grandios und faszinierend.“

In der Tat: Island, die zweitgrößte Insel Europas – 103.000 Quadratkilometer groß, aber nur von knapp 300.000 Menschen besiedelt – ist ein irdischer Kosmos voller Naturwunder, eine Welt aus Licht und Lava, changierend in allen Farben – eine Symphonie aus Schwarz und Braun, Rot und Ockerfarben, Grün und Gelb. Dabei spielt das Wetter die Rolle des ewigen Verwandlungskünstlers: Mal wölbt sich ein stahlblauer Himmel über der Insel, der die Konturen der Berge scharf vor dem Horizont hervortreten lässt – mit moosgrünen Tälern und blitzenden Seen. Dann, ganz unerwartet, sorgt die Launenhaftigkeit des Klimas für dramatische Schauspiele am Himmel. Der Wind fegt düstere Wolken heran und peitscht graue Regenschleier über das Land.

„Island ist nichts für Warmduscher“, sagt Wanderführer Kai, ein 30-jähriger Skandinavien-Fan aus Thüringen, der die Sommermonate regelmäßig auf der Atlantikinsel verbringt. Jeden Morgen übt er mit uns dasselbe wörtliche Zeremoniell ein: „Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht“, sagt er, „die schlechte zuerst: Es kann regnen. Und die gute: Wir wandern trotzdem.“

Was die meisten Wanderer nach Island lockt, ist die Ursprünglichkeit, die intakte Natur. Die Luft ist rein und klar, die Gewässer so sauber, dass man aus jedem Bach, Fluss oder See trinken kann. Über schroffe Felswände stürzen Bäche und Flüsse wie breite Silberbänder zu Tal – Wasserfälle von den Gletschern, die auch heute noch mehr als ein Zehntel der Insel bedecken. Doch unter dem Eis ist die Erde noch nicht zur Ruhe gekommen, die Schöpfung nicht abgeschlossen. Dies ist das größte aktive Vulkangebiet der Erde. Mehr als 200 Feuerberge haben Wissenschaftler auf der Insel am Polarkreis gezählt, ebenso viele Ausbrüche wurden seit der Besiedlung vor 1200 Jahren registriert – im Schnitt alle fünf Jahre einer.

Mit dem Bus sind wir zu den Solfatarenfeldern von Námaskard gefahren, rund 100 Kilometer östlich der Stadt Akureyri, die mit ihren bunten Holzhäusern und Villen aus dem 19. Jahrhundert als schönste Stadt Islands gilt. Schon von Weitem dringt uns Schwefelgeruch entgegen. Minuten später stehen wir in einer graugelben Wüste, in der zischend unzählige Rauchsäulen in den Himmel steigen. In Schlammtrichtern brodelt es, gelber Brei bildet dicke Blasen, die mit dumpfen Knall zerplatzen – eine Höllenküche, wie sie selbst der Maler Hieronymus Bosch kaum eindrucksvoller hätte darstellen können. Die Felder gehören zum Vulkangebiet Krafla. Mittendrin steht ein Kraftwerk, das den Norden der Insel mit Strom und Heißwasser versorgt. „Bei uns“, scherzen die Isländer, „werden sogar Kirchen aus der Hölle beheizt.“

Eine der interessantesten Touren führt uns in der zweiten Wanderwoche ins Tal von Thingvellir – einer der Höhepunkte jeder Island-Reise. Senkrechte Felswände säumen eine tiefe Schlucht, die zerklüftet ist von Spalten und Abbruchkanten. Mächtige Wasserfälle schäumen über Basaltfelsen, aber auf der Sohle des Canyons dehnt sich ein Tal mit grünen Wiesen und sanften Moosflächen. Eine weiße Kirche spiegelt sich im See, daneben wie hingestreut ein paar Häuser mit roten und grünen Dächern. Thingvellir zählt zu den bedeutendsten Stätten Islands – für alle Inselbewohner so etwas wie ein nationales Heiligtum. Hier wurde im Jahr 930 der isländische Staat gegründet, hier tagte jahrhundertelang das „Althing“, eine Volksversammlung, der das isländische Parlament noch heute seinen Namen verdankt. Die Isländer sind stolz, damit eine der ersten Demokratien geschaffen zu haben.

Thingvellir – das ist ein Stück Island zwischen den Welten. Viele Hundert Meter unter unseren Füßen quillt glühendes Magma aus der Tiefe und schiebt sich zwischen die eurasische Platte auf dem östlichen Teil des Atlantikbodens und die amerikanische im Westen – seit Jahrtausenden, Tag für Tag, Stunde um Stunde. Hier, auf dem mittelozeanischen Rücken, teilt sich die Erde. Geologen haben die Kontinentaldrift genau vermessen. Jedes Jahr rücken die Platten zwei Zentimeter weiter auseinander. Neben uns erstreckt sich ein kilometerlanger Grabenbruch, kaum anderthalb Meter breit und viele Meter tief. An den schmalsten Stellen kann man sich breitbeinig über die Rinne stellen, einen Fuß in Europa, den anderen in Amerika. Mutige riskieren den Sprung, einmal hin und zurück – ein Sprung, der Kontinente verbindet...